Dr. Wolfgang Stegemann
Dr. Wolfgang Stegemann

Ontologie des Bewusstseins

Marker, Mechanismen, Metaphysik – Warum die Bewusstseinsforschung ihre ontologische Frage nicht stellt

 

1. Einleitung: Die ontologische Leerstelle der Bewusstseinsforschung

 

 

Zahlreiche Theorien der Bewusstseinsforschung beanspruchen, das "Rätsel des Bewusstseins" zu erklären, doch bei genauerer Betrachtung beschreiben sie meist nur dessen Korrelate, nicht dessen Konstitution. Ob neuronale Synchronisation, Integration von Information, globale Verfügbarkeit oder spontane Aktivität – all diese Phänomene fungieren als Marker, als messbare Signaturen, deren ontologischer Status jedoch ungeklärt bleibt. Damit wird das sogenannte "Hard Problem" des Bewusstseins nicht gelöst, sondern lediglich in operational messbare Parameter übersetzt, ohne den ontologischen Ort des Bewusstseins zu benennen.

 

Wie ein Damoklesschwert hängt das Hard Problem über nahezu allen Theorien des Bewusstseins. Es gilt als Prüfstein jeder ernsthaften Theorie – doch es ist zugleich eine der unsinnigsten Fragen, die die Philosophie hervorgebracht hat: Die Frage, wie "Geist aus Materie" entstehen könne, beruht auf einer kategorialen Verwechslung. Denn Geist entsteht nicht aus toter Materie, sondern aus Leben – aus autokatalytisch organisierten, thermodynamisch offenen Systemen, die funktionale Kohärenz ausbilden können. Eine evolutionär informierte Theorie des Bewusstseins erkennt: Das Problem stellt sich nicht zwischen Materie und Geist, sondern zwischen strukturierter Funktionalität und Erleben.

 

Dieser Artikel argumentiert, dass die meisten Bewusstseinstheorien an einer strukturellen Verwechslung leiden: Sie beschreiben was Bewusstsein begleitet, nicht was es ist.

 

2. Bewusstseinsmarker: Was messen wir eigentlich?

 

Die modernen Neurowissenschaften verfügen über ein breites Arsenal an Methoden, um bewusste Zustände zu identifizieren: den Perturbational Complexity Index (PCI), den Grad neuronaler Integration (z. B. Φ bei Tononi), die Synchronisation über Frequenzbänder, oder die spontane Aktivität (Northoff). So hilfreich diese Marker auch für Diagnostik und empirische Klassifikation sind, sie liefern keine Antwort auf die ontologische Frage: Was macht ein System zu einem bewussten System? Sie erfassen die Korrelate, nicht die Ursache, geschweige denn die Grundstruktur des bewussten Seins.

Die Vorstellung, dass Bewusstsein als Produkt bestimmter Aktivitätsmuster zu verstehen sei, verlagert die Erklärungsebene vom Sein zum Signal. Doch ein starkes Korrelat ist noch keine ontologische Erklärung.

 

3. Phänomenologie vs. Physikalismus – eine unproduktive Polarisierung

 

Ein besonderer Beitrag zur ontologischen Perspektive stammt aus der phänomenologischen Tradition, insbesondere von Edmund Husserl. Für Husserl ist Bewusstsein nicht ein abgeleitetes Phänomen, sondern die Grundlage aller Erfahrung und Existenz. Ohne es wären wir nicht einmal Zombies – denn Bewusstsein konstituiert nicht nur unser Erleben, sondern unsere strukturelle Integration als biologische Subjekte. Auch aus evolutionärer Sicht lässt sich argumentieren: Der Aufstieg der Wirbeltiere wäre kaum erklärbar durch rein mechanistische Mechanismen wie Chemotaxis. Es bedurfte einer Form von Bewusstheit, um sensorische und motorische Integration systemisch zu stabilisieren. Das deutet darauf hin, dass Bewusstsein keine Folge neuronaler Verarbeitung ist, sondern eine Modusform biologischer Organisation – ein integraler Aspekt lebendiger Systeme.

 

In dieser Perspektive stellt eine Nervenzelle im visuellen Cortex keine "Reizverarbeitungseinheit" im klassischen Sinne dar. Sie ist die Reizverarbeitung – das heißt: Sie integriert externe Signale in ihre autokatalytische Existenzweise. Ihre Funktion besteht nicht in einer passiven Weiterleitung, sondern in einer aktiven Einbettung von Reizen in ein energetisches und funktionales Netzwerk. Diese Integration ist nicht sekundär, sondern konstitutiv: Die Reizverarbeitung ist nicht etwas, das auf die Zelle wirkt – sie ist die Zelle als lebendiger Vorgang. Dasselbe gilt für das gesamte Gehirn.

 

Ein weiteres Hindernis für eine substanzielle Theorie des Bewusstseins ist die binäre Spaltung zwischen phänomenologischen Ansätzen (z. B. Husserl, Varela, Zahavi) und physikalistisch-reduktionistischen Modellen (z. B. Tononi, Dehaene, Seth). Erstere beschreiben das Erleben, ohne es funktional zu verankern, während letztere Erklärungen liefern, die kaum Bezug zur subjektiven Binnenstruktur haben. Beide vermeiden – auf unterschiedliche Weise – eine ontologische Beschreibung des Subjekts.

 

Die Emergenztheorie etwa behauptet, dass aus neuronaler Komplexität subjektive Erfahrung hervorgehe – ohne jedoch darzulegen, unter welchen Bedingungen dies notwendig geschieht. Die Berufung auf Emergenz ersetzt hier die Erklärung durch eine epistemische Ausflucht.

 

4. Der kausale Kern: Ontologische Fundierung durch thermodynamische Selbstzentrierung

 

Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Ansätzen geht die Theorie des kausalen Kerns von einem anderen Prinzip aus: dem einer funktionalen Selbstzentrierung, die sich aus den thermodynamischen Bedingungen autokatalytischer Systeme ergibt. Diese Systeme zeichnen sich durch offene Energie- und Stoffflüsse aus, innerhalb derer sich stabile Selbstorganisation etablieren kann. Besonders in autokatalytischen Netzwerken, wie sie bereits bei präbiotischen Strukturen vorliegen, entstehen lokale Zentren funktionaler Integration.

 

Autokatalyse ist dabei nicht nur ein Prozessmerkmal, sondern das erste und grundlegende Strukturprinzip allen Lebens. In ihr manifestiert sich die Fähigkeit eines Systems, seine eigene Organisation durch rückgekoppelte Wechselwirkungen zu erhalten und zu erneuern.

 

Der daraus hervorgehende kausale Kern bildet das Strukturprinzip eukaryotischer Lebensformen, indem er eine asymmetrische Regulation von Innen- und Außenbedingungen ermöglicht. Diese funktionale Zentrierung – ein kausaler Zentralismus – ist nicht lokal gebunden, sondern strukturell über das gesamte System verteilt.

Im tierischen und insbesondere im menschlichen Nervensystem entwickelt sich aus dieser Struktur ein weiteres Organisationsprinzip: der kausale Kollaps. Er bezeichnet Zustände, in denen kausale Pfade nicht mehr separierbar, sondern temporär kohärent sind. Dieser Kollaps ist kein Defizit, sondern ein Zeichen maximaler funktionaler Integration – und stellt den ontologischen Betriebsmodus eines bewussten Systems dar: Er ist nicht das Resultat von Integration, sondern deren realisierende Form.
 

Ein solcher kausaler Kern ist kein physikalisches Objekt, sondern eine dynamische Struktur, in der externe Reize nicht nur verarbeitet, sondern in das System integriert werden. Reize werden dabei Teil des autokatalytischen Erhaltungsprozesses. Dies führt zu einer asymmetrischen Strukturierung von Innen und Außen: Das System beginnt, sich selbst als Zentrum seiner Wechselwirkungen zu organisieren.

 

 

5. Abgrenzung zu relationalen Modellen: Northoffs Common Currency

 

Georg Northoff beschreibt Bewusstsein als das Ergebnis synchronisierter raumzeitlicher Rhythmen zwischen Gehirn, Körper und Umwelt. In seiner sogenannten Common Currency Hypothese geht er davon aus, dass ein temporaler Rahmen geschaffen wird, in dem sich subjektives Erleben organisieren kann. Das Subjekt ist hier keine eigenständige Entität, sondern ein Knotenpunkt relationaler Dynamiken.

 

Das Modell des kausalen Kerns widerspricht dieser Auffassung nicht im Sinne eines Gegensatzes, sondern zeigt, dass Resonanzrelationen nur dann erlebbar werden, wenn bereits ein inneres Funktionsprinzip existiert, das diese Relationen integrieren kann. Dieses Prinzip ist der kausale Kern. Das Subjekt ist daher:

autonom, aber nicht autark. Es zentriert sich funktional selbst, bleibt jedoch in offener thermodynamischer Wechselwirkung mit seiner Umwelt. Seine Struktur ist nicht von der Welt erzeugt, sondern ermöglicht seine Relation zu ihr.

 

Bewusstsein entsteht in diesem Modell also nicht durch Abstimmung auf äußere Rhythmen, sondern durch die Nicht-Trennbarkeit funktionaler Prozesse im Inneren des Systems.

 

Leben war übrigens lange vor Bewusstsein mit der Umwelt „synchronisiert“ – aber nicht im Sinne subjektiver Erfahrung. Diese frühe Form der Umweltkopplung war biophysikalisch und chemisch vermittelt: Stoffwechsel, Gradienten, Ionenströme, Zellmembranaktivitäten. All das sind Formen von Reaktivität, nicht von In-der-Welt-Sein.

 

6. Ontologische Kriterien für Bewusstsein

 

Aus der hier vertretenen Sicht ergeben sich vier zentrale Kriterien für eine ontologisch gehaltvolle Theorie des Bewusstseins:

  1. Innere funktionale Zentrierung: Das bewusste System verfügt über einen kausalen Integrationskern.
  2. Thermodynamische Offenheit und Asymmetrie: Das Subjekt ist durch den permanenten Austausch mit der Umwelt gekennzeichnet, ohne in ihr aufzugehen.
  3. Autokatalytische Rekursivität: Die Systemzustände basieren auf rückgekoppelten Prozessen der Selbstmodifikation.
  4. Temporäre Kohärenz: Bewusstsein tritt als Zustand maximaler Nicht-Separierbarkeit kausaler Pfade auf.

Diese vier Bedingungen erlauben es, den ontologischen Status von Bewusstsein nicht über Marker, sondern über strukturelle Merkmale zu bestimmen.

 

7. Fazit: Vom Messwert zur Subjekthaftigkeit

 

Bewusstsein ist kein Artefakt synchronisierter Aktivität, kein Epiphänomen, kein bloßer Marker – es ist Ausdruck eines thermodynamisch zentrierten, funktional rekursiven Systems, das über die Fähigkeit verfügt, Kausalität intern kohärent zu binden.

Erst wenn Theorien diesen Anspruch erfüllen, verdienen sie den Titel einer Ontologie des Bewusstseins.

 

8. Ontologie als Perspektivfrage – oder als notwendige Struktur?

 

Am Ende bleibt die erkenntnistheoretisch heikle Frage: Ist Ontologie eine Frage der Beobachterperspektive, oder verweist sie auf wirkliche Strukturen, die unabhängig vom Blickwinkel bestehen? In der Bewusstseinsforschung zeigt sich dieses Problem exemplarisch: Modelle wie das von Northoff beschreiben das Subjekt als relationales Zentrum im Raum-Zeit-Gefüge, während das hier entwickelte Modell eine funktionale Innenseite postuliert – den kausalen Kern.

 

Wenn jedoch jede Ontologie nur als perspektivische Zuschreibung gilt, dann bleibt auch die Ontologie des Bewusstseins auf Marker und Korrelate reduziert. Das aber wäre ontologisch unbefriedigend, denn es lässt offen, warum ein System subjektives Erleben hat – es beschreibt nur, wann es auftritt.

 

Eine wirkliche Ontologie des Bewusstseins muss daher mehr leisten: Sie muss zeigen, wie Bewusstsein strukturell entstehen kann – nicht relativ zur Beobachtung, sondern als reale Eigenschaft lebendiger Systeme. Nur dann kann das Hard Problem – in seiner verfehlten Formulierung – endgültig verlassen und durch eine evolutionär-funktionale Erklärung ersetzt werden.

 

Bewusstsein ist nicht relativ – sondern real. Es ist nicht beobachtet, sondern gelebt.

 

 

Literatur

  • Husserl, Edmund (1950). Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Niemeyer.
  • Maturana, Humberto & Varela, Francisco (1987). Der Baum der Erkenntnis. Goldmann.
  • Northoff, Georg (2016). Neuro-Philosophy and the Healthy Mind. Norton.
  • Tononi, Giulio (2008). Consciousness as Integrated Information: a Provisional Manifesto. Biol. Bull. 215(3): 216–242.
  • Stegemann, Wolfgang (2025). Consciousness as a Collapse of Causality. https://www.academia.edu/129143983/Consciousness_as_a_collapse_of_causality