Dr. Wolfgang Stegemann
Dr. Wolfgang Stegemann

Das Leben als Ausdruck grundlegender Prinzipien – Autokatalyse und der kausale Kern

1. Autokatalyse: Selbsterhaltung als Grundprinzip des Lebens

 

Autokatalyse beschreibt chemische Reaktionen, bei denen die Produkte selbst als Katalysatoren für weitere Reaktionen fungieren. Durch diese Rückkopplung entsteht eine Art Selbsterhaltung – das System erhält sich „um jeden Preis“ aufrecht. Lebende Zellen verkörpern dieses Prinzip: Sie optimieren fortlaufend die chemischen Reaktionen, die ihr Überleben sichern. Ohne Ziel oder Absicht streben sie einzig nach Stabilität und Reproduktion. Damit ist das Grundprinzip des Lebens ein chemischer Prozess, der nicht auf Teleologie, sondern auf Selbstorganisation basiert.

 

2. Die Rolle der Valenzkopplung: Der Ursprung der Autokatalyse


Autokatalyse ist kein Phänomen, das nur in lebenden Systemen existiert; es beruht auf den Valenzeigenschaften von Atomen und Molekülen, also der Neigung von Atomen, sich durch Elektronenaustausch oder -teilung zu stabilen Verbindungen zu organisieren. In der unbelebten Materie führt diese Neigung zu stabilen Molekülverbindungen und chemischen Reaktionskreisläufen. Die Autokatalyse ist eine Fortsetzung dieser Tendenz: Moleküle organisieren sich so, dass Reaktionen entstehen, die zur Bildung weiterer, energetisch stabiler Moleküle führen. Leben kann somit als eine raffinierte Form der chemischen Selbstorganisation gesehen werden, die auf der Fähigkeit der Moleküle basiert, Energie zu speichern und weiterzugeben.

 

3. Leben als hochkomplexes, dynamisches Gleichgewicht


In biologischen Systemen ist die Autokatalyse zu einem dynamischen Gleichgewicht gesteigert. Die Zelle ist das einfachste lebendige System, das dieses Prinzip verkörpert: eine Einheit, die sich fortlaufend selbst erneuert und aufrechterhält, indem sie auf äußere Einflüsse reagiert. Doch im Kern bleibt die „Logik“ dieselbe wie in der unbelebten Materie: Die Aufrechterhaltung stabiler Zustände. Diese Logik ist in jeder Systemebene, von der Zelle bis zum gesamten Organismus, zu finden. Organe und Gewebe arbeiten durch die kollektive Organisation der Zellen zusammen und schaffen Strukturen, die dem Gesamtorganismus dienen. Dennoch bleibt jede Ebene weitgehend autonom und folgt ihrer spezifischen Logik der Selbstorganisation und Selbsterhaltung.

 

4. Wenn die Autokatalyse verselbstständigt: Ein Blick auf Krebs


Eine Entkopplung von der übergeordneten Steuerung kann zu Systemstörungen führen, wie es im Krebs sichtbar wird. Krebszellen folgen der Logik der autokatalytischen Selbsterhaltung „um jeden Preis“ und beginnen, sich unabhängig vom Organismus zu vermehren. Dieses Verhalten ist keine bewusste Fehlanpassung, sondern ein Ausdruck der autonomen Logik der Zelle, die, entkoppelt von äußeren Kontrollmechanismen, ihrem autokatalytischen Prinzip blind folgt.

 

5. Die Brücke zwischen unbelebter und lebendiger Materie


Das Leben, wie wir es kennen, ist eine emergente Eigenschaft der Chemie. Der Übergang vom Unbelebten zum Lebendigen ist graduell und basiert auf denselben grundlegenden Bindungs- und Stabilitätsprinzipien. Die Autokatalyse macht sichtbar, wie lebende Systeme auf derselben chemischen Grundlage basieren wie die unbelebte Materie – durch die Fähigkeit zur Energieaufnahme, Bindungsbildung und Kettenreaktion. Diese Perspektive zeigt Leben als ein Kontinuum, das nicht auf Teleologie basiert, sondern auf den Grundkräften der Natur selbst.

Allerdings, erst die Zellmembran ermöglicht die Abgrenzung und damit die Entwicklung eines unabhängigen Systems. Sie markiert den entscheidenden Übergang vom Nicht-Leben zum Leben, indem sie ein abgeschirmtes, autonomes System schafft, das sich selbst erhalten, regulieren und fortpflanzen kann. Sie ist die „Identitätsgrenze“ des ersten lebenden Systems und ermöglicht die Entwicklung eines unabhängigen Stoffwechsels und die Ansammlung von Information. Damit ist die Membran die erste Instanz, die eine klare Unterscheidung zwischen Innen und Außen schafft und das Prinzip der Selbstorganisation auf eine neue Ebene hebt. Sie bildet die Grundlage für alle weiteren komplexen Eigenschaften des Lebens, von der Zellstruktur über den Stoffwechsel bis hin zur Evolution.


Leben ist in dieser Sicht kein Ziel der Materie, sondern eine hochkomplexe Form der Selbstorganisation, die durch die Grundprinzipien der Chemie ermöglicht wird. Autokatalyse und Valenzkopplung schaffen Strukturen, die sich selbst erhalten und unter bestimmten Bedingungen sogar anpassen können. Das Leben zeigt uns damit letztlich, dass auch das Komplexe und Organisierte aus den einfachsten chemischen Prinzipien entstehen kann, ohne Plan oder Ziel – ein faszinierendes, dynamisches Gleichgewicht, das der Materie innewohnt und das wir als „Leben“ begreifen.

 

6. Autokatalyse und Bayessche Inferenz als Anpassungsmechanismen


Autokatalytische Systeme streben nach Selbsterhaltung, und dieser Prozess könnte als Grundlage für ein „biologisches Lernen“ im Sinne der Bayesschen Inferenz angesehen werden. Die Zellen und Organismen probieren ständig neue „Hypothesen“ aus, etwa durch Mutationen, die zu veränderten Reaktionsmechanismen oder neuen molekularen Strukturen führen. Diese Veränderungen wirken wie Experimente, und der „Erfolg“ oder das „Scheitern“ dieser Varianten wird von der Umwelt bestimmt. In gewisser Weise aktualisieren diese Systeme ihre „Annahmen“ über die besten Überlebensstrategien in Bezug auf die äußeren Bedingungen – ähnlich wie die Bayessche Inferenz die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese anpasst, basierend auf neuen Informationen.

 

7. Versuch und Irrtum als Bayesscher Prozess in der Evolution


Der evolutionäre Prozess kann als eine lange Serie von Experimenten angesehen werden, bei denen die Wahrscheinlichkeit der erfolgreichen Reproduktion (ein Kernziel des Lebens im Sinne der Autokatalyse) stetig neu bewertet wird. Jede Mutation, jede Veränderung der Umwelt, jedes experimentelle Verhalten fügt neues „Datenmaterial“ hinzu. Bayessche Inferenz beschreibt den Mechanismus, mit dem der „Erfolg“ eines Lebenssystems durch Anpassung an die Umwelt optimiert wird: Wenn eine bestimmte Konfiguration das Überleben begünstigt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass diese Konfiguration weitervererbt wird. Bei ungünstigen Konfigurationen wird sie entsprechend reduziert. So entsteht eine dynamische Anpassung, die an die Bayessche Aktualisierung von Wahrscheinlichkeiten erinnert, aber nicht bewusst, sondern emergent und durch Versuch und Irrtum.

 

8. Autokatalyse als Basis des „Wissens“ der Zelle


Zellen folgen keiner bewussten Strategie, sondern autokatalytischen Prozessen, die ihre Selbsterhaltung sichern. Doch durch die Variation und Anpassung der molekularen Strukturen – eine Art „Mutation“ in der chemischen Sprache – entsteht eine Art implizites „Wissen“, das der Bayesschen Inferenz ähnelt. Die Zelle probiert durch chemische Variationen aus, wie sie ihre Katalyseprozesse anpassen kann, und durch den Prozess der natürlichen Selektion werden erfolgreiche Strukturen „gelernt“, da sie häufiger reproduziert werden.
Diese Hypothesenbildung und Anpassung findet auf der Grundlage der grundlegenden chemischen Prinzipien statt, ohne eine zielgerichtete Logik, sondern durch das blinde Testen und Erfahren von Wechselwirkungen. Die erfolgreicheren Konfigurationen werden automatisch favorisiert und verstärkt – ein Prozess, der die autokatalytische Logik (Erhaltung des Systems um jeden Preis) beibehält, aber durch eine Art evolutionäre „Bayessche Anpassung“ verfeinert wird.

 

9. Bayessche Inferenz als formale Beschreibung evolutionärer Prozesse


Bayessche Inferenz beschreibt mathematisch, wie Hypothesenwahrscheinlichkeiten durch neue Informationen angepasst werden. In der Biologie wäre dies analog zur Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte genetische Variante im Genpool bleibt oder sich verbreitet. Die Bayessche Sichtweise erlaubt also, die Evolution als iterativen Anpassungsprozess zu sehen, der durch Versuch und Irrtum den Organismus besser auf die Umwelt „einstellt“. Dies passt zusammen mit der autokatalytischen These insofern, als die Autokatalyse die Selbsterhaltung absichert, während die Bayessche Inferenz die statistische Anpassung an die Umwelt über lange Zeiträume beschreibt.
Der Prozess der Anpassung durch Autokatalyse und bayessische „Lernprozesse“ kann als dynamischer Ablauf innerhalb eines Phasenraums verstanden werden – einem Möglichkeitsraum, der durch die inneren Voraussetzungen des Organismus (seine genetische Ausstattung, molekulare Strukturen und physikalischen Eigenschaften) sowie die äußeren Umweltbedingungen definiert wird. Der Attraktor in diesem Raum, der die Richtung des evolutionären „Flusses“ vorgibt, ist kein statisches Element. Er verhält sich wie ein dynamischer Agent, der durch die Wechselwirkungen zwischen Organismus und Umwelt kontinuierlich geformt und neu konfiguriert wird.

 

10. Der Phasenraum als Möglichkeitsraum


Der Phasenraum stellt die Vielzahl aller möglichen Zustände und Anpassungswege eines Organismus dar. Er umfasst nicht nur die genetische Diversität, die mutiert und selektiert werden kann, sondern auch die epigenetischen, biochemischen und Verhaltensspielräume des Organismus. Die äußeren Bedingungen legen dabei „Bedingungen“ für diesen Raum fest, während die inneren Eigenschaften des Organismus bestimmte Regionen oder Pfade im Raum bevorzugt „begehbar“ machen. Die Autokatalyse sorgt dafür, dass bestimmte Zustände, die der Selbsterhaltung dienen, verstärkt werden und sich im Phasenraum anziehen.

 

11. Der dynamische Attraktor als agentischer Faktor


Der Attraktor in diesem Phasenraum ist kein fixer Punkt, sondern ein dynamisches Muster, das sich in Abhängigkeit der biologischen und Umweltbedingungen ständig verändert. Anders als ein klassischer Attraktor, der Systeme einfach zu einem Endpunkt oder stabilen Muster hinzieht, verhält sich dieser Attraktor agentisch: Er entsteht durch die Interaktion zwischen den genetischen Möglichkeiten eines Organismus und den Umweltanforderungen und passt sich diesen an. Der Attraktor „verschiebt“ sich in Reaktion auf Veränderungen in der Umwelt oder Mutationen, die neue „Möglichkeiten“ im Phasenraum eröffnen. Das Ergebnis ist ein flexibles, dynamisches System, das sich nicht auf ein starres Gleichgewicht hin entwickelt, sondern auf ein immer neu justiertes, angepasstes Gleichgewicht, das sich selbst erhält.

 

12. Attraktor als emergente „Intelligenz“ im evolutionären Prozess


Indem der Attraktor flexibel auf Veränderungen reagiert, agiert er quasi als „agentische“ Komponente im Phasenraum – eine Art emergente Intelligenz, die den evolutionären Prozess in eine bestimmte Richtung „lenkt“, ohne dass eine bewusste Steuerung erforderlich ist. Dies ist im Einklang mit der Autokatalyse: Der Organismus reagiert selbstverstärkend und autokatalytisch auf Bedingungen, die seine Selbsterhaltung optimieren, und der Attraktor entwickelt sich mit diesen Bedingungen weiter.

 

13. Bayesscher Einfluss im dynamischen Phasenraum


Die Bayessche Anpassung erfolgt durch die fortlaufende Neuausrichtung dieses Attraktors, basierend auf Versuch und Irrtum. Jede neue Mutation, Umweltveränderung oder Anpassung verschiebt den Attraktor und „informiert“ das System über die Möglichkeiten des Überlebens und der Fortpflanzung im Phasenraum. Dies könnte man als eine Art laufende „hypothetische Optimierung“ verstehen, bei der der Organismus durch die Interaktion mit der Umwelt in einem dynamischen Feedback-Zyklus seine „Wahrscheinlichkeiten“ für Überleben und Reproduktion anpasst.


Die Agentenschaft des Lebens, wie sie sich durch autokatalytische Prozesse und dynamische Attraktoren entwickelt, entsteht in der Tat aus den kontinuierlichen und nichtlinearen Energie- und Stoffaustauschen mit der Umwelt. Diese Prozesse erzeugen in einem komplexen Zusammenspiel von Fluktuationen und Ungleichgewichten lokale Strukturen mit hoher Dichte und erhöhter Reaktionswahrscheinlichkeit. Diese lokal verdichteten Strukturen bilden die Grundlage für Gradienten, die als „kausale Kräfte“ wirken und das System in Richtung immer stärkerer Zentralisierung und Selbstorganisation treiben.

 

14. Ungleichgewicht und nichtlinearer Energieaustausch als treibende Kräfte


Lebende Systeme sind offene Systeme, die kontinuierlich Energie und Materie aus ihrer Umgebung aufnehmen und verarbeiten. Dieser Austausch ist ungleichgewichtig und nichtlinear, was bedeutet, dass lebende Systeme nicht in einem statischen Gleichgewichtszustand verweilen, sondern in einem dynamischen Fluss. Diese dynamischen Wechselwirkungen schaffen Bedingungen, in denen sich Moleküle, Zellen und Organismen auf eine Weise organisieren, die lokale Maxima an Strukturdichte und reaktiver Kapazität hervorbringt. Dies wiederum erhöht die Reaktionswahrscheinlichkeit innerhalb des Systems und verstärkt die Autokatalyse und die Bildung von Gradienten.

 

15. Lokale Maxima als Generatoren von Gradienten und Kausalität


Die Bildung lokaler Strukturdichte-Maxima in lebenden Systemen stellt einen zentralen Mechanismus dar, durch den Gradienten entstehen. Diese Gradienten repräsentieren Unterschiede in Energie- und Stoffverteilung und schaffen „kausale Kraftfelder“, die das System anziehen und in eine Richtung lenken. Gradienten wirken also als eine Art energetische und strukturelle Attraktoren, die durch ihren inneren Antrieb zur Selbsterhaltung und Selbstvermehrung das System in bestimmte Zustände oder Konfigurationen ziehen.

 

16. Zentralisierung als emergentes Steuerzentrum


Durch die kontinuierliche Bildung und Verstärkung dieser Strukturdichte-Maxima entstehen Tendenzen zur Zentralisierung – das heißt, bestimmte Bereiche des Systems übernehmen zunehmend eine Steuerfunktion, indem sie die Hauptentscheidungen über Energieverteilung, Reaktion und Replikation lenken. Diese Strukturverschiebungen führen dazu, dass sich lebensnotwendige Prozesse um diese Zentralen organisieren, die immer mehr zur „Steuerinstanz“ werden. Diese Steuerung erfolgt jedoch nicht bewusst, sondern als emergente Eigenschaft der sich selbst organisierenden Prozesse im dynamischen System.
Die „Zentralisierung“ ist dabei nicht nur eine strukturelle Verdichtung, sondern auch eine funktionale: Diese Bereiche sind besonders empfindlich für Umweltveränderungen und können entsprechend schnell auf äußere Reize reagieren. Die höhere Strukturdichte und Reaktionswahrscheinlichkeit schaffen eine Art implizite Entscheidungsebene, die das Überleben und die Anpassung des gesamten Systems optimiert.

 

17. Agentenschaft als emergentes Phänomen der Struktur- und Funktionszentren


Die Agentenschaft des Lebens entsteht demnach nicht durch eine zielgerichtete Intelligenz, sondern durch eine Kombination aus Strukturdichte, Energiefluss und Reaktionsfähigkeit, die lebende Systeme fähig macht, sich zu regulieren und zu steuern. Diese Prozesse bewirken eine emergente „Zentralisierung“ der Steuerung, wobei eine zentrale Koordination innerhalb des Systems entsteht, die Umweltreize verarbeitet und adaptive Reaktionen fördert. Die Agentenschaft des Lebens könnte also als eine Art natürliche Intelligenz verstanden werden, die durch die energetische und strukturelle Komplexität von selbstorganisierenden Prozessen innerhalb eines dynamischen Ungleichgewichts entsteht.

 

 18. Vom Zellkern zur Zentralisierung der Steuerung


Der Zellkern stellt in gewisser Weise den ersten Schritt der Zentralisierung dar: Er sammelt genetische Information und kontrolliert die wichtigsten Prozesse der Zelle, darunter die Replikation und Proteinsynthese. Diese Verdichtung von Funktionen an einem zentralen Ort ermöglicht es der Zelle, ihre Prozesse effizient zu koordinieren und Ressourcen zu bündeln. Die Zentralisierung führt hier zu einer effektiveren Steuerung und Reaktionsfähigkeit, die für das Überleben der Zelle und ihre Fähigkeit, auf die Umgebung zu reagieren, essenziell ist.

 

 19. Höhere Komplexität und die Entwicklung des Nervensystems


Mit der zunehmenden Komplexität mehrzelliger Organismen wird diese Tendenz zur Zentralisierung weitergeführt. Zellen beginnen, sich zu spezialisieren und organisieren sich in funktionale Einheiten, die spezifische Aufgaben übernehmen. Die Notwendigkeit, Bewegungen zu koordinieren und auf die Umwelt zu reagieren, führt zur Entwicklung eines zentralen Nervensystems. Dieses Netzwerk übernimmt zunehmend die Steuerung des Organismus, indem es Informationen aus verschiedenen Teilen des Körpers zusammenführt, Entscheidungen trifft und Befehle weiterleitet.

 

Diese „Dichte“ an Information und Steuerungsfunktionen im zentralen Nervensystem schafft ein Zentrum, das die gesamte Selbstorganisation und Anpassung des Organismus koordiniert. Die Fähigkeit, sensorische Informationen zu integrieren und darauf zu reagieren, bildet die Grundlage für das Bewusstsein und das Gefühl eines „Ichs“.

 

 20. Emergenz des „Ichs“ und der „Seele“ durch Zentralisierung


Diese zunehmende Zentralisierung und die Komplexität der Informationsverarbeitung führen schließlich zu einer weiteren emergenten Ebene: der mentalen Vorstellung eines „Ichs“. Das Gehirn ist in der Lage, vergangene Erfahrungen zu speichern, gegenwärtige Wahrnehmungen zu integrieren und zukünftige Entscheidungen zu planen – Fähigkeiten, die in ihrer Kombination das Gefühl eines kohärenten, in sich geschlossenen Selbst entstehen lassen.

 

Die Vorstellung einer „Seele“ oder eines „Ichs“ kann daher als das mentale Resultat der zentralisierten Steuerungsprozesse und der zunehmenden Dichte der Informationsverarbeitung verstanden werden. Was wir als „Ich“ oder „Seele“ erleben, ist eine emergente Eigenschaft dieser komplexen Interaktionen und die Fähigkeit des Gehirns, Muster und Bedeutungen aus sensorischen, emotionalen und kognitiven Informationen zu schaffen und sich selbst als Einheit wahrzunehmen. Das Ich-Gefühl ist damit die intuitive Interpretation dieser organischen Struktur und Funktion.

 

 20. Das „Ich“ als emergente Struktur im Phasenraum des Bewusstseins


In diesem Kontext kann das Ich als eine Art Attraktor im Phasenraum des Bewusstseins angesehen werden. Die stetige Rückkopplung und Zentralisierung der Wahrnehmungen und internen Zustände des Körpers führt zu einem stabilen, wenn auch dynamischen Muster im Gehirn – einem Muster, das uns das Gefühl einer stabilen Identität und eines kohärenten Selbst vermittelt, selbst wenn sich die äußeren Umstände verändern.

 

Die Vorstellung einer „Seele“ oder eines „Ichs“ ist somit die subjektive Interpretation dieser kontinuierlichen Strukturverdichtung und Zentralisierung. Das Ich-Gefühl ist eine Art Symbol für die Fähigkeit des Gehirns, Informationen zentral zu verarbeiten und eine kohärente, subjektive Perspektive zu erschaffen.

Die Akkumulation lokaler Dichten und die Tendenz zur Zentralisierung stellen grundlegende Mechanismen dar, die auf der zellulären Ebene beginnen und im zentralen Nervensystem zur vollen Ausprägung kommen.

 

Das Gefühl einer „Seele“ oder eines „Ichs“ ist das emergente Ergebnis dieser strukturellen und funktionalen Zentralisierung. Die Vorstellung eines Ichs ist daher eine intuitive Abstraktion, die aus der Fähigkeit des Gehirns zur Selbstorganisation und zur Steuerung des gesamten Organismus resultiert – ein „Zentrum“ im Bewusstsein, das durch nichts anderes als die komplexe Interaktion neuronaler und bioenergetischer Prozesse entsteht.