Dr. Wolfgang Stegemann
Dr. Wolfgang Stegemann

Metabiologie des Geistes

Die Metaphysik extrapoliert die Erkenntnisse der Physik (zusammen mit denen der Philosophie) zu einer allgemeinen Ontologie. Macht man eine Trennung zwischen unbelebter und belebter Natur, dann ist für eine allgemeine Ontologie des Lebens folgerichtig eine Metabiologie zuständig. Sie verallgemeinert nicht nur die Erkenntnisse von Biologie und Physik, sondern stellt einen theoretischen Rahmen zur Verfügung, der sich aus der Besonderheit des Lebens gegenüber der unbelebten Natur ergibt.

Wenn wir von Leben sprechen, meinen wir immer die Struktur, die aus dem autokatalytischen Prinzip von Leben erwächst. Sie bildet den zentralen Unterschied zwischen Leben und Nichtleben. Diesem Umstand muss durch eine methodologische Unterscheidung Rechnung getragen werden.

Rekonstruiert man dieses autokatalytische Prinzip historisch, kommt man an einer bestimmten Stelle zu der neuronalen Art und Weise der Orientierung von Lebewesen in der Welt und schließlich zum menschlichen Bewusstsein.

 

Die Notwendigkeit einer biologischen Metatheorie liegt auf der Hand. Auch wenn sich die Physik um biologische Prozesse kümmert, so tut sie dies immer nur an Teilen eines Organismus. Diese Teile aber sind für sich genommen leblos, sie werden erst lebendig im Zusammenspiel mit dem gesamten Organismus. Leben ist bereits vom Begriff her nichts Einzelnes, es ist ein Strukturbegriff, der eine Struktur beschreibt. Selbstverständlich sind die Erkenntnisse von Physik, Biophysik oder Biochemie unabdingbar für die Forschung, allerdings nicht als Konstrukteur für eine Ontologie, sondern als Lieferant von Puzzleteilen. So gesehen ist die pluralistische Wissenschafts-Community unabdingbar für eine Forschung in alle Richtungen.

 

Betrachten wir Leben als Struktur, wird gleichsam deutlich, dass Leben sich nicht auf eine vis vitalis und ebenso wenig auf eine den Dingen innewohnende Information reduzieren lässt. Hier käme sonst der Dualismus durch die Hintertür wieder ins Spiel.

Genauso wenig spielt die Quantenebene eine Rolle, denn die Spezifik von Leben, also ihre Struktur, entsteht erst auf der Ebene der Moleküle.

 

So gesehen darf eine Metabiologie nicht auf Physik reduziert werden. Beispiel predictive coding. Das Konzept wurde als maschinelles Lernverfahren entwickelt und analogisch auf das Gehirn übertragen. Hier mag es auf einzelne Binnenprozesse zutreffen, nicht aber als allgemeine Erklärung der Funktionsweise des Gehirns als Vorhersagemaschine dienen. Es ist dies eine beliebige Zuschreibung, die davon ausgeht, die Ontologie des Gehirns bestände darin, Vorhersagen zu treffen. Wenn man davon ausgeht, dass Leben danach strebt, ein dynamisches Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, scheint Kritikalität eher in einer Balance aufgelöst zu werden, als Wahrscheinlichkeiten zu berechnen. Natürlich spielen Wahrscheinlichkeiten punktuell eine Rolle, etwa bei der Einschätzung, ob ein Hindernis überwunden werden kann. Dies aber als Ontologie zu proklamieren, ist Physikalismus.

Und gerade Kritikalität ist ein gutes Beispiel für den Unterschied zwischen Physik und Biologie: in lebenden Systemen wird Kritikalität durch hemmende Neuronenverbände zurückgeregelt, um eben in ein dynamisches Gleichgewicht zu gelangen. Ein Vorgang, den es in der unbelebten Welt nicht gibt.

 

Und ebenso wichtig ist die Kategorienbildung. Egal, aus welcher Perspektive wir das Gehirn betrachten, es ist immer dasselbe Gehirn. Mal verwenden wir dazu die Sprache der Physiologie, mal die der Psychologie oder der Philosophie. Es ist, als wenn wir einen Satz in verschiedene Sprachen übersetzen, der Satz bleibt immer derselbe.

Das eine Mal reden wir also von einem elektrochemischen Vorgang, das andere mal von einem Gedanken, einer Empfindung oder einem Gefühl. Wir könnten diese verschiedenen Sprachen simultan benutzen, müssen aber aufpassen, dass wir nicht die eine verwenden, um die andere zu erklären oder eine Kausalität zwischen ihnen herzustellen.

 

Versuchen wir eine Korrelation zwischen den Sprachen herzustellen, bedeutet dies zugleich, dass jeder Lebensäußerung, jedem Gedanken oder jeder Empfindung ein physiologischer Vorgang zugeordnet werden muss. Es gibt kein Denken, das ohne Physiologie verläuft. Oder besser: Jedes Denken ist Physiologie. Und jede Physiologie ist Denken, ob bewusst oder unbewusst, ob willkürlich oder unwillkürlich. Es gibt also keinen Dualismus zwischen einer Physis und einem Geist.

Geist bzw. Bewusstsein muss also aus der physischen Realität erklärbar sein und schließt selbstverständlich alle Beziehungen darin ein.

 

Denken und Empfinden entstehen als das gemeinsame Feuern von Neuronen, d.h. Neuronen bilden Muster. Man kann besser sagen, es bilden sich Holonome, denn dieser Begriff gibt eher die Vieldimensionalität wieder, indem multimodale Reize sich verbinden.

Holonome sind mehr oder weniger stabile mehrdimensionale Muster, die mehr oder weniger offen für die Kopplung mit anderen Holonomen oder Reizen sind und insgesamt eine heteronome Struktur bilden.

 

Das Gehirn ist eine hochkomplexe Orientierungsmaschine, die alle sensorischen Reize integriert.

Das ist genau der Unterschied zur derzeitigen KI. Diese produziert mit ihrer binären Vorgehensweise keine Gedanken.

Es reicht nicht, einen Haufen künstlicher Neurone anzuregen. Wer ist dann der Träger der Erlebnisse, also des Bewusstseins? Es gibt kein Subjekt des Erlebens. Es gibt also nichts, das man mit dem Begriff des ICH beschreiben könnte. Das nämlich geht nur auf Basis eines autokatalytischen, autopoietischen Systems.

 

Die Philosophie des Geistes sowie die kognitive Neurowissenschaft täten also gut daran, an einer Metabiologie des Geistes mitzuarbeiten.

 

Wir sprachen anfangs davon, dass die Metaphysik physikalische Erkenntnisse ontologisiert. Solche ontologischen Schlussfolgerungen kann eine Metabiologie ebenso gebrauchen, allerdings muss sie diese erst in ihren Rahmen transformieren. Beschreibt beispielsweise die Theorie dynamischer Systeme Phasenräume, Trajektorien und Attraktoren eines passiven unbelebten Systems, sind diese nach ihrer Transformation Bestandteile eines lebenden Systems. Der Attraktor ist dann nicht mehr passiver ‘Anziehungspunkt’, sondern Agent, der das gesamte System aktiv verändert, somit Zustandsräume gestaltet und neue Verläufe generiert.

 

Nehmen wir den Begriff Information im Sinne eines ontologischen Strukturbegriffs, wie ihn die Integrierte Informationstheorie entwickelt hat. Transformiert man ihn in eine Metabiologie, wird er dort dynamisch und veränderbar. Information ist dann nicht mehr nur ein starrer physikalischer Begriff, sondern lässt sich hinsichtlich Dichte und damit hinsichtlich kausaler Kraft beschreiben, die mittels Informations- bzw. Strukturgradient Einfluss gegenüber Bereichen niedrigerer Dichte gewinnt. Mit einer als Superstruktur bezeichneten Bündelung solcher lokaler Dichten ließe sich die Orientierungsmaschine Gehirn ontologisch als Sitz von Bewusstsein und ICH begründen.

 

Ohne eine Metabiologie des Geistes wird die Hirnforschung sowie die Philosophie des Geistes weiterhin zwischen Utilitarismus (der nicht geringgeschätzt werden soll) und philosophischer Spekulation schlafwandeln.