Dr. Wolfgang Stegemann
Dr. Wolfgang Stegemann

Neuronale Schwarmintelligenz?

Das synchrone Feuern von Neuronenverbänden erinnert an das Schwarmverhalten in der Tierwelt. Bei beiden stellt sich die Frage, wie kommt es zu dieser Art kohärentem Verhalten und vor allem, wie kommt es zu zielorientiertem Verhalten.

Die Forschung zur Schwarmintelligenz beinhaltet zwei Fragen:
1. Wie entstehen Schwärme
2. Warum zeigen diese intelligentes Verhalten.


Beide Fragen sind bis heute ungeklärt, obwohl es eine ganze Reihe von Erklärungsansätzen gibt. Demnach entstehen Schwärme, indem Individuen einen möglichst gleichen Abstand zum Nachbarn einhalten, sich seiner Geschwindigkeit anpassen und zum Mittelpunkt des Schwarms streben. [1] Physiologisch verantwortlich seien die sog. Spiegelneuronen [2]


Das intelligente Verhalten besteht in der höheren Effektivität des Schwarms bei der Erledigung von Aufgaben (Futtersuche, Schutz vor Feinden).
Diese Erklärungen ergeben sich ausschließlich aus Beobachtungen, man hält diese also bereits für die kausalen Zusammenhänge.


Man attestiert einerseits dem Schwarm die Intelligenz, erklärt diese dann aber durch Aktionen der einzelnen Agenten, schiebt die Intelligenz also wieder zum einzelnen Individuum - eine Tautologie.
Kein Ansatz aus dem Bereich des Lebendigen liefert eine Ontologie des Schwarmverhaltens. Dies aber wäre wichtig, um z.B. das synchrone Feuern von Neuronen zu erklären oder eine menschähnliche künstliche Intelligenz zu entwickeln (AGI). Schließlich wird man Neuronen nicht attestieren wollen, dass sie bestimmte Regeln beachten, die zu einem kollektiven Verhalten führen. Intelligenz soll ja gerade aus der Kollektivität entstehen.
Die Vorstellung, man müsse nur genügend Neuronen zusammenschalten um Bewusstsein zu generieren, ist die logische Folge.
Hier zeigt sich auch der Mangel einer wirklichen Erklärung des Paradigmas der Selbstorganisation. Sie ist ein empirisches Phänomen, für das es keine kausale Erklärung gibt.


Selbstorganisation wird lediglich als empirisches Phänomen beschrieben, wie es aber dazu kommt, weiß man nicht. Ein Mangel ist auch, dass man physikalische Theorien, wie die der dynamischen Systeme [3] auch auf lebende Systeme anwendet, ohne einen Unterschied zu machen. Man ontologisiert hier physikalische Gesetzmäßigkeiten für das Lebendige.


Eine solche Ontologisierung gilt nur für Systeme mit sehr großen Populationen, bei denen es um statistische Werte geht und bei denen die individuellen Freiheitsgrade zu vernachlässigen sind. Bei allen Systemen, bei denen der individuelle Freiheitsgrad größer ist, als die gegen ihn wirkende Kraft, muss die Eigendynamik lebender Agenten einbezogen werden. M.a.W., es gibt einen prinzipiellen Unterschied zwischen unbelebter und belebter Materie, der in der Organisation von Systemen ontologisch berücksichtigt werden muss.
Die eingangs aufgeworfenen Fragen lauten unter dieser Voraussetzung, wie funktionieren Schwärme und wie orientieren sie sich.
Dafür suchen wir nach Prinzipien, die wir auf allgemeiner Ebene systemtheoretisch formulieren können.


Unbelebte Systeme sind passiv, belebte Systeme sind aktiv, sowohl als ganzes System wie auch hinsichtlich der individuellen Agenten. Einem unbelebten System kann daher schon keinerlei Intelligenz zugesprochen werden. Was aber ist das ontologische Prinzip von Intelligenz? Betrachtet man Intelligenz nicht als objektives transzendentes Maß, sondern als Fähigkeit eines lebenden Systems, seinen Austausch mit der Umwelt optimal zu regeln, dann muss diese Fähigkeit als Eigenschaft beschreibbar sein.

Diese Eigenschaft selbst liegt nicht im einzelnen Agenten, ergibt sich aber aus der Bewegung der Agenten.

 

Grundlage ist, dass es zu einer Verschiebung der Abstände zwischen den einzelnen Agenten kommt. Durch diese Bewegung entstehen zufällige Strukturänderungen und damit eine lokale Änderung der Strukturdichte.

Der Unterschied zwischen einem Vogelschwarm und synchronen Neuronen ist, dass im Vogelschwarm intelligente Agenten auftreten, im neuronalen Netz des Gehirns sind es nicht-intelligente Agenten. Ist der Vogelschwarm groß genug, spielt dieser Unterschied keine Rolle, da dann die Logik des Systems gilt, mithin die Logik der großen Zahl.

 

Bleibt die Verschiebung der Abstände und damit die Veränderung der Dichte unterhalb eines bestimmten Wertes, bleibt sie folgenlos. Überschreitet sie diesen Wert, erlangt die lokale Dichte kausale Kraft.

Was bedeutet die lokale Änderung der Strukturdichte? Eine höhere Dichte bedeutet eine höhere physikalische Aktions- und Reaktionswahrscheinlichkeit. Der Informationsfluss wird intensiver, sowohl nachrichtentechnisch wie physikalisch [4] [5].

 

Eine höhere physikalische Aktions- und Reaktionswahrscheinlichkeit bedeutet wiederum, dass von diesem lokalen Feld Impulse an Felder mit geringerer Dichte ausgehen. Es entsteht ein Informationsgradient, der steuernd wirkt, also Kausalität generiert.

Wenn es stimmt, dass alle Agenten in einem Schwarm sich zur Mitte bewegen, dann ist diese Mitte der Ort mit der jeweils größten Dichte an Agenten. Er ist ein Attraktor, der allerdings selbst ständig in Bewegung ist.

Übertragen auf das Gehirn als Ganzes haben wir es mit einem steuernden System zu tun, das unterschiedliche Reize und unterschiedliche Gedanken integriert. Auch in jedem Gedanken erfolgt eine solche Integration. Ich bezeichne diese Systeme daher als Holonome [6].

 

Im Gegensatz zu einem Schwarm ist ein Gehirn in einen Organismus eingebunden und insofern besteht ein (genetisch) begrenzter Raum, der die Systemgrenzen definiert.

Selbstorganisation in lebenden Systemen ist also beschreibbar als Generierung von Strukturdichte, die sich raumzeitlich innerhalb definierter Systemgrenzen bewegt (deren Überschreitung pathologisch wird).

Sie steuert den Prozess der Anpassung durch die konzentrierte Bewegung hin zu kompatiblen Umweltbedingungen.

Je komplexer und differenzierter das lebende System, desto komplexer und differenzierter sind Aktionen und Reaktionen der Steuerung, erlebt als Denken und Empfinden.

 

Die Reflexivität beim Menschen entsteht durch die Rückkopplung dieses Denkens mit sozialen Bedeutungen und ihrer subjektiven Integration. Damit wird Denken und Empfinden selbst-bewusst.

Kohärentes Verhalten lebender Systeme bringt demnach dekohärente Strukturen mit sich, die im nächsten Schritt eine neue Kohärenz erfahren und dann für das System steuernd wirken.

 

Die Selbstreflexion beim Menschen ist so gesehen ein Sonderfall, indem sich die Selbststeuerung spiegelt und diese Spiegelung wiederum integriert.

 

Die Entstehung der lokalen Dichte könnte man wie folgt zu Ausdruck bringen:


C = \sum_{i=1}^{n} \sum_{j=1}^{m} d(i, j) \cdot w(i, j)

 

C ist die Gesamtkomprimierungsmenge.
d(i, j) ist die Distanz zwischen den Knoten i und j.
w(i, j) ist das Gewicht der Kante zwischen den Knoten i und j.

 

Um die Gesamtkomprimierungsmenge zu maximieren, muss sich die Distanz zwischen den Knoten in einem bestimmten Bereich verringern. Dies kann durch Verringern des Gewichts der Kanten zwischen diesen Knoten oder durch Verschieben der Knoten näher zueinander erreicht werden.

 

Die Distanz zwischen zwei Knoten wird durch die Anzahl der Kanten zwischen ihnen bestimmt.

Das Gewicht einer Kante wird in der Regel durch die Bandbreite oder die Latenz der Kante bestimmt.

Die Gesamtkomprimierungsmenge wird durch die Summe der Distanzen zwischen allen Knoten multipliziert mit dem Gewicht jeder Kante berechnet.

 

Die damit verbundene erhöhte Informationsdichte, ausgedrückt als erhöhte Reaktionswahrscheinlichkeit könnte analog wie folgt ausgedrückt werden:

 

k = A \cdot e^{-\frac{E_a}{RT}} \cdot f(d)

k ist die Reaktionsgeschwindigkeitskonstante.
A ist die Arrhenius-Konstante.
E_a ist die Aktivierungsenergie.
R ist eine Umgebungskonstante.
T ist die kinetische Energie der Teilchen im System.
f(d) ist eine Funktion, die die Abhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeitskonstante von der Distanz zwischen den Knoten beschreibt.

 

Es scheint sich dabei um einen skalenfreien Prozess zu handeln [7], der natürlich abhängig ist von der Art der Agenten sowie dem Medium.

Die Funktionalität eines Gehirns manifestiert sich morphologisch und bildet den Rahmen für die weitere Entwicklung.

 

Der Unterschied zwischen einem unbelebten und einem belebten Netzwerk ist also die Selbstbewegung und Selbstveränderung des belebten Systems. Es ist aktiv, seine Knoten sind reaktant. Die Art und Weise ihrer Kopplung ist valenzbasiert [8].

 

Die Netzwerkdynamik eines lebenden Systems basiert nach m.M. auf der Struktur- bzw. Informationsdichte und bildet damit die ontologische Grundlage für alles Lebendige.

 

Wir haben also, ausgedrückt in den beiden Gleichungen, eine sich entwickelnde Strukturdichte und damit eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Entstehung von Kausalität in einem Netzwerk.

 

Möglicherweise spielt hier die Potenzgesetzverteilung eine Rolle: dort, wo die Reaktionshäufigkeit hoch ist, nimmt sie exponetiell zu und „saugt“ damit kausale Kraft an.

Dies liese sich dann so ausdrücken:

 

P(k) = \frac{k^{-\gamma}}{\sum_{i=1}^{N} i^{-\gamma}}

In dieser Gleichung steht P(k) für die Wahrscheinlichkeit, dass ein Knoten im Netzwerk genau k Verbindungen hat. N ist die Gesamtzahl der Knoten im Netzwerk und \gamma ist ein Parameter, der die Steilheit der Potenzgesetz-Verteilung bestimmt.

Die Gleichung besagt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein neuer Knoten sich mit einem bereits gut verbundenen Knoten verbindet, proportional zu der Anzahl der Verbindungen dieses Knotens erhöht wird. Mit anderen Worten, je mehr Verbindungen ein Knoten bereits hat, desto wahrscheinlicher ist es, dass er weitere Verbindungen erhält.

 

Fazit: einfach ausgedrückt lässt sich sagen, dass informationsleitende Systeme mit dichter Packung Hotspots für Reaktionen sind und damit ihrer Umgebung die Art der Informationsverarbeitung aufzwingen, ohne deren eigene Art zu zerstören.
Das heißt, eine Nervenzelle arbeitet immer noch wie eine Zelle, nämlich proteinbildend. Sie wird aber als Teil des Gehirns in die neuronale Informationsverarbeitung einbezogen und trägt mit ihren Mitteln zu einem für sie neuartigen Netzwerk bei.



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[1] Reynolds, C., Flocks, herds and schools: A distributed behavioral model. Proceedings of the 14th annual conference on Computer graphics and interactive techniques, doi:10.1145/37401.37406

[2] Rizzolatti, G., Sinigaglia, C.,: Empathie und Spiegelneurone: Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt 2008

[3] Prigogine, I., Stengers, I.: Dialog mit der Natur, München 1993

[4] Shannon,C., Weaver, W., Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, 1976

[5] Parrondo, J., Horowitz, J. & Sagawa, T. Thermodynamics of information. Nature Phys 11, 131–139 (2015). https://doi.org/10.1038/nphys3230

[6] Stegemann, W., Was ist AGI? https://www.dr-stegemann.de/was-ist-agi/

[7] Cavagna, A., et. al., Scale-free correlations in starling flocks, Proceedings of the National Academy of Sciences, Volume 107, Issue 26 https://doi.org/10.1073/pnas.1005766107

[8] Stegemann, W., Selbstorganisation von innen betrachtet, https://www.dr-stegemann.de/selbstorganisation-von-innen/