Dr. Wolfgang Stegemann
Dr. Wolfgang Stegemann

Anthropischer Relativismus 2

Ich hatte im ersten Teil meiner Erkenntnistheorie [1] beschrieben, dass durch die spezifische Transformation der Welt jegliche Entität ihre eigene Welt in ihrer eigenen Modalität schafft.


Ich möchte diesen Ansatz in Abgrenzung zu zwei Autoren präzisieren, die eine ähnliche Epistemologie entwickelt haben. Kurioserweise verwenden beide eine nahezu identische Terminologie (Sinnfelder, Einhorn Welt), unterscheiden sich aber durch den Fokus. Während der rumänische Philosoph Gabriel Vacariu [2] die Physik in den Vordergrund stellt, geht es bei Markus Gabriel [3] um philosophische Themen.

 

Wenn wir davon ausgehen, dass jede Entität aufgrund ihrer existentiellen Modalität ihr eigenes spezifisches Verhältnis zur Welt schafft, wenn sie also in dieser Weise in der Welt instanziiert ist, dann existiert sie eben genau in dieser Blase. Dazu gehören alle Wahrnehmungen, oder allgemeiner, alle Austauschprozesse mit der Welt.


Wenn Vacariu argumentiert, dass die Quantenphysik eine eigene Welt sei, bricht er mit seiner Logik. Die Quantenmechanik gehört ebenso zum epistemischen Bereich unserer Welt wie die klassische Physik. Unsere Unfähigkeit, sie zu erklären, resultiert daraus, dass wir als mesoskopische Wesen für die Mikroskala keine Ontologie entwickeln können.

 

Dasselbe Problem taucht bei anderen Themen auf, wie z.B. beim Leib-Seele Problem. Während Vacariu meint, es sei durch die epistemisch verschiedenen Welten verursacht [4], behaupte ich, dass es ein sprachliches und methodologisches Problem ist, das Teil unserer Welt 2 ist und hier gelöst werden muss [5].


Ebenso verwischt Markus Gabriel die epistemischen Ebenen, wenn er epistemisch und metaepistemisch nicht trennt. 
Beide Theorien sind inkonsistent, indem sie andere Welten in unsere Welt hereininterpretieren, was ja nach ihrer eigenen Logik nicht möglich sein dürfte. Denn wenn es möglich wäre, gäbe es keine epistemische Vielfalt.


Auch die Auffassung Markus Gabriels, der Materialismus könne die Welt nicht vollständig erklären, enthält eine epistemische Inkonsistenz, mindestens aber einen Kategoriefehler. Wenn man einen nicht-dualistischen Standpunkt vertreten will, dann gibt es nur zum Beispiel Materie, und aus dieser entsteht auch das, was wir Geist nennen. Wir haben nur keinen materiellen bzw. physikalischen Begriff von Geist. Deshalb aber die materielle Grundlage von Geist leugnen zu wollen, ist falsch.

 

Beide Autoren entwickeln ihre Theorie ex nihilo, indem sie nur die Behauptung aufstellen, die Welt wäre epistemisch verschieden. Meine Argumentation beginnt mit einem logischen Satz, der besagt, dass jede Entität die Welt transformiert. Daraus ergibt sich für jede Entität eine eigene epistemische Welt, die ich als Welt 2 bezeichnet habe. Welt 1 existiert nur als virtuelle Hilfskonstruktion, die nur aus einer virtuellen Metaperspektive denkbar ist, aber als solche nicht real existiert.

 

Unsere Welt 2 kann natürlich durch Wirkungen anderer epistemischer Welten beeinflusst werden, sie haben aber nur erkenntnistheoretischen Einfluss, da der materielle Einfluss Teil unserer Realität ist. Das heißt, möglicherweise erkennen wir Dinge nicht, obwohl sie existent sein müssten. Wenn wir hingegen Dinge erkennen, wissen wir, dass sie existent sind, können sie aber möglicherweise nicht erklären, da wir keinen ontologischen Zugang zu ihnen haben, wie etwa in der Quantenphysik.

 

Wir können den anthropischen oder epistemischen Relativismus bis zum Individuum herunterbrechen, denn die epistemische Transformation ist zwar entitäts- bzw. artspezifisch, konkretisiert sich aber für jedes Individuum. Das zeigt sich daran, dass ich den Schmerz meines Nachbarn nicht fühlen kann, auch nicht mittels einer gedachten Verkabelung zwischen uns beiden.

 

Es ist definitiv unmöglich. So lebt jeder Mensch in seiner eigenen epistemischen Welt, und das schließt die Empfindungen ein. Dies gilt auch für Gruppen und Kulturen. Die ethische Konsequenz daraus ist ein Kulturrelativismus ohne jeglichen epistemischen und kulturellen Kolonialismus.

 

Nimmt man einen virtuellen metaepistemischen Standpunkt ein, so sieht man unendlich viele Welten. Mit den für uns wahrnehmbaren können wir interagieren, ohne sie verstehen zu können und zu müssen.

 

Alle unsere logischen Argumente beziehen sich auf unsere Welt 2. Jedes Anfangsargument endet immer in einem Schluss, der notwendig epistemisch vorgegeben ist. Jede Argumentation ist, metaepistemisch betrachtet, eine Tautologie.

 

In unserer epistemischen Blase gilt ein Instrumentalismus, eingedenk der Tatsache, dass wir diese Blase nie verlassen können.


Es gibt also drei Ebenen der Erkenntnis. Zum einen die operative Ebene, auf der Alltags-, technische und wissenschaftliche Erkenntnis angesiedelt sind. Auf der nächsten Ebene geht es um Methodologie, also um die Frage, wie können wir in unserer Welt 2 Wissen über die Welt gewinnen. Hier könnte es um die Frage gehen, ob eine neutrale physikalische Sprache möglich ist, die die Erkenntnisse von klassischer und Quantenphysik in sich integrieren kann.


Schließlich dient die metaepistemische Ebene der Einsicht, dass es keine objektive Realität gibt, der man durch Wissenschaft nahe kommen könnte. Dies ist wichtig hinsichtlich transzendenter Ideen wie Religion oder der Vorstellung, man könne objektive Wahrheiten entdecken oder erkennen. Sie lehrt uns eine relativistische Weltanschauung.

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[1] Stegemann, W., Epistemology – Anthropic Relativism, https://medium.com/neo-cybernetics/epistemology-anthropic-relativism-2773dc8c77b7

[2] Vacariu, G., Illusions of Human Thinking
On Concepts of Mind, Reality, and Universe in Psychology, Neuroscience, and Physics, 2016.

[3] Gabriel, M., Why the World Does Not Exist, 2015

[4] Vacariu, G., The Mind-Body Problem Today, 2011

[5] Stegemann, W., Mind-body problem — solved, https://medium.com/@drwolfgangstegemann/leib-seele-problem-gel%C3%B6st-83898b480000