Dr. Wolfgang Stegemann
Dr. Wolfgang Stegemann

Was ist Leben

Mit dem Paradigma der Selbstorganisation wurde die Antwort auf die Frage, was Leben ist, einfacher. Jedoch ist weiterhin unklar, was genau Selbstorganisation auf der operativen Ebene ist bzw. sein kann. Bei der Betrachtung der bisherigen Ansätze verschiedenster Art, die dieses Paradigma verwenden, zeigt sich ein entscheidender Mangel: Prozesse in Zusammenhang mit Selbstorganisation werden rein physikalisch beschrieben. Zwar ist die physikalische Beschreibung notwendig, aber nicht hinreichend. Leben kann letztlich nur mit der Sprache der Biologie adäquat dargestellt werden.
Zwar ist die Sprache der Analytik physikalisch, die synthetisch-biologische Sprache muss der Eigendynamik von Leben Rechnung tragen.
Ein (physikalisch) dynamisches System ist passiv und folgt dem Attraktor, der sich aus der passiven Systemeigenschaft und den Bedingungen der Umwelt ergibt. Ein biologisches dynamisches System hingegen ist aktiv, es 'trifft Entscheidungen', die lebenswichtig sind.
Was also bringt Moleküle dazu, sich zusammenzuschließen, sich zu reproduzieren, zu evolvieren und sich optimal an die Umwelt anzupassen. Es ist weder das Ergebnis eines rein stochastischen Prozesses, noch eines deterministischen.
Es braucht also ein Steuerungssystem, eine Art Navigation.
Ich habe dieses Steuerungssystem als Metastruktur bzw. in Summe vieler Metastrukturen als Supersystem beschrieben (siehe Startseite), die/ das als notwendigerweise grobkörnige und damit effektive Informationsverarbeitung entsteht und somit als Ordnungsfaktor fungiert, der Leben nach innen strukturiert und nach außen navigiert.
Effektivität bedeutet Schnelligkeit bei geringstem Energieverbrauch. Diese Metastruktur zeigt sich auf Genomebene als Genregulation, auf Zellebene als Proteinregulation, auf Organebene als Hormonsteuerung sowie auf Ebene des Zentralnervensystems als elektrochemisch verursachtes Bewusstsein.
Wie bleibt eine solche Meta- oder Ordnungsstruktur stabil, wie evolviert sie und wie schafft sie eine optimale Anpassung?
Aus der Theorie dynamischer Systeme wissen wir, wie Systeme sich verhalten. Biologische Systeme streben nach der Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts. Ihr Attraktor liegt also im ausbalancierten System. In komplexen biologischen Systemen überlagern sich die Regulationsebenen (Genom, Zelle, Zellverband, Organsystem, ZNS). Jede Ebene hat ihren eigenen Attraktor, wird aber top-down reguliert. Für die Metastruktur gilt dasselbe. Sie strebt nach einem dynamischen Gleichgewicht, da hierdurch ein optimaler Energieausgleich geschaffen wird.
Da es sich um ein dynamisches System handelt, entwickelt es sich ständig fort im Sinne einer Komplexifizierung. Der Grund dafür liegt in der ständigen Bildung neuer Metastrukturen durch permanenten Informationsaustausch. Dieser findet mit der Umwelt in Möglichkeitsräumen statt, in denen sich Zustandsänderungen in Phasenräumen vollziehen. Das biologische System navigiert in diesen Räumen per Versuch und Irrtum, allerdings nicht stochastisch, sondern durch einen begrenzten Random Walk.
Die Begrenzung, innerhalb derer das System 'sucht', ergibt sich durch die Anzahl möglicher Erfolgsparameter. Diese können definiert werden als mögliche Assoziationspartner, d.h. für die Entwicklung des Systems kompatible Elemente. Das bedeutet, die (Meta-) Struktur ist nur in der Lage, mit einer begrenzten Zahl von Elementen zu koppeln, nämlich denjenigen, die zu den Systemeigenschaften kompatibel sind.
Ich nenne die Eigenschaft, die die Kompatibilität realisiert, Valenz.
In Analogie zu dem Bestreben eines Atoms, seine Elektronenhülle zu vervollständigen und damit empfänglich für entsprechende Atome zu sein, sehe ich in einem biologischen System eine Valenz, die geeignet ist, mit Elementen zu koppeln.
Dieser valenzbasierte Random Walk wird durch die Metastruktur realisiert, denn hier liegt die höchste Informationsdichte vor, d.h. die Metastruktur 'weiß' am besten, welches die optimalen Assoziationspartner sind, garantiert also die höchste Effektivität.
Wie kommt es nun dazu, dass gerade diese Elemente Teil der Metastruktur sind und nicht andere. Die Antwort ist einfach: Nehmen wir einen Baum - an dem ich die Entstehung der Metastrukturen beschrieben habe - er hat eine spezifische Form, die, ähnlich einer Gesichtserkennungssoftware, zwangsläufig wahrgenommen werden muss. Ein grünes Dreieck, also drei Punkte, drei Linien und eine Fläche, bilden das Impulsmuster des Baumes. Die Metastruktur 'Baum' besteht also notwendig aus diesen Elementen, für deren Wahrnehmung sich spezifische Neuronen herausgebildet haben. An dieses Muster assimiliert bzw. assoziiert das System andere Bäume und evolviert dadurch, dass es komplexer wird oder, wie Piaget es ausdrückt, es akkomodiert und erreicht dadurch eine höhere Informationsdichte.
Die Metastruktur 'Baum' wird also komplexer und vielschichtiger.
Die Valenz des Baumes liegt also in der Struktur. Die Metastruktur 'Baum' koppelt so an kompatible Muster des Baumes.

Betrachtet man komplexe Metastrukturen und die aus ihnen gebildete Superstruktur namens ICH oder Bewusstsein, so wird klar, warum wir unglaublich schnell und effektiv Dinge wahrnehmen, einschätzen und Handlungen generieren können.
Ich behaupte, diese metastrukturelle Valenz ist die Triebfeder allen Lebens und existiert auf allen Regulationsebenen.
Mit diesem Modell hat man das Paradox aufgelöst, dass Leben Leben schafft (Henne-Ei-Problematik).

Einen Grund für diese Argumentation liefert die Evolutionstheorie selbst. Dort herrscht noch immer das Dogma der zufälligen endogenen Genmutation als Triebfeder für die Entstehung der Arten. Leider ist dieses Dogma auch in der Molekulargenetik vorherrschend.
Zufällige Genmutationen hätten mathematisch eine nahezu unendliche Variationsbreite. Beobachtet man sehr kurzlebige Lebewesen, bei denen man tausende Generationen studieren kann, hat man es mit einer sehr begrenzten Variationsbreite zu tun.
Anpassungsleistungen sind oftmals nicht linear kausal. Beispielsweise erfolgt die Anpassung eines Käfers an ein grünes Habitat durch eine Farbmutation. Woher 'weiß' der Zufall, dass er diesen 'Umweg' gehen soll?
Oder nehmen wir das nach dem Gehirn komplexeste Organ, das Auge und stellen uns einen gedachten Dialog zwischen Mutation und Selektion vor. Die Mutation generiert Stäbchen und Zäpfchen. Die Selektion antwortet, dass man dies nicht brauche, ja es für die Anpassung eher kontraproduktiv wäre. Scheinbar hat die Selektion auf eine zweite Stimme gehört, die sagte, man soll doch bitteschön abwarten, vielleicht entwickle sich aus diesen kuriosen Mutationen doch etwas sinnvolles. Dieses jahrmillionen dauernde Hin und Herr brachte schießlich das komplette Auge hervor? Dieser Dialog führt die Vorstellung zufälliger Mutationen ad absurdum.
Die Lösung lautet: durch die ständige Bombardierung der Organismen mit elektromagnetischer Strahlung - also Licht - haben diese ein Sensorium für Licht ausgebildet.
Mit der valenzbasierten Metastrukturbildung lässt sich dies leicht erklären.
Licht formiert die Außenhaut des Organismus so, dass ein Möglichkeitsraum entsteht. Jeder Möglichkeitsraum hat quasi Aufforderungscharakter, so, wie ein Abfluss einen Aufforderungscharakter für Wasser hat, einen Sog zu bilden. Der Unterschied zum physikalischen "Aufforderungscharakter" ist, dass Leben durch seine Eigenaktivität mehrere Möglichkeiten hat, also mehrere Varianten bilden kann.
Der Zufall kam zu Darwins Zeiten in die Welt, um eine Erklärungslücke zu schließen. In Ermangelung einer tatsächlichen Erklärung - das Paradigma der Selbstorganisation war noch nicht geboren - half eben der Zufall.
Auch in der Molekulargenetik spielt er eine Hauptrolle. Das Phänomen von sichtbaren Mutationen wird dem Zufall zugeschrieben. So wird man die Entstehung von z.B. Krebs nie wirklich verstehen.
Die Frage wäre nun, wie lassen sich eine höhere Informationsdichte sowie eine höhere Ordnung in physiologische Funktionszusammenhänge übersetzen, um Metastrukturen zu identifizieren? Finden sich im Genom und Proteom Interaktionsstrukturen, die auf eine Steuerungsfunktion hinweisen? Und wenn ja, müsste man zwischen pathogenen und nicht pathogenen unterscheiden.
Was kann ein solches Modell der valenzbasierten Metastruktur leisten? Es kann zum Verständnis beitragen, wie sich biologische Systeme in jeweils einen Zustand bringen, der für sie optimal ist, und das bedeutet, Schnelligkeit, hohe Flexibilität und Anpassung.
Dieser Vorgang kann natürlich auf einer Ebene solange gestört werden, bis das System entweder kollabiert, oder einen alternativen Weg findet, um diesen Vorgang fortzusetzen (z.B. Krebs).


Selbstorganisation lässt sich von außen beschreiben als dynamisches System. Dafür nimmt man mathematische Modelle, die allerdings genuin ausschließlich physikalische Systeme beschreiben, auch wenn behauptet wird, man könne damit auch biologische Systeme beschreiben. Bei biologischen Systemen (komplexerer Art) hat man zu viele Variablen, so dass der Aussagewert gegen Null geht.
Um aber die interne Eigenlogik von Leben zu verstehen - und das ist ja gerade das, was man will - kommt man mit statistischen Modellen nicht weiter. Man muss also die Intrinsik von Leben verstehen. Die läuft auf die Frage zu, was bringt ein biologisches System dazu, sich selbst zu organisieren, und zwar so, dass es überlebt und sich fortpflanzt. Will man keine Magie annehmen, muss sich eine logische Erklärung finden lassen. Dann kann man sagen, dass es sich auf allen Ebenen so mit Dingen assoziieren muss, dass es keinen Schaden nimmt und aktionsfähig bleibt. Das bezieht sich auf Metabolismus ebenso wie auf Kooperationspartner. Es muss also bestrebt sein, kompatible Agenten zu finden. Und da ist die Frage, wie das gelingt. Es muss eine Affinität oder Kompatibilität bestehen bzw. entstehen zwischen System und Agenten. Bei einfachsten Systemen wird dies chemisch geregelt, etwa durch stoffliche Konzentrationszu- oder -abnahme. Man kann allgemein formulieren, dass zwischen System und Agent eine gleiche Wertigkeit (Valenz) besteht. Beim Menschen zeigt sich dies etwa im assoziativen Denken, nur kompatible Muster finden Akzeptanz. Der Begriff Valenz charakterisiert also eine Strukturkompatibilität und nicht eine Objektkompatibilität, denn diese würde letztlich zu einem Reduktionismus hin zu einem Punkt führen, also ins unendlich kleine oder zu einem infiniten Regress. Valenz könnte somit ein Maß für die Kompatibilität von Mustern sein. Im Gegensatz zur binären Logik digitaler Maschinen weist der Begriff Valenz auf die Unschärfe von Entscheidungen in biologischen Systemen hin.

Sobald sich zwei Bausteine zu Leben zusammenschließen, kann Leben nur noch als Struktur - bestehend aus diesen Bausteinen - verstanden werden und nicht mehr als Ansammlung zweier Bausteine (was nicht bedeutet, dass man die jeweiligen Bausteine als solche nicht untersuchen müsste, im Gegenteil). Diese Strukturkompatibilität muss man für die entsprechenden Regulationsebenen operationalisieren und spezifizieren.

 

Leben lässt sich zusammenfassend bezeichnen als valenzbasiertes Prozessieren und Evolvieren (adaptiver Randomwalk) mittels steuernder Metastrukturen.

 

Ich habe diese Überlegungen an anderer Stelle komprimiert dargestellt.