Dr. Wolfgang Stegemann
Dr. Wolfgang Stegemann

Fragment einer Systemtheorie des Menschen

Vorbemerkung
Warum Modellbildung

Modelle sind sinnvoll, um Komplexität zu vereinfachen, komplexe Zusammenhänge einfach darzustellen. Aber nicht nur das. Modelle können helfen, empirische Daten zu sortieren und damit neue Blickwinkel zu setzen. Ein solches umfassendes Modell fehlt in den Humanwissenschaften. Es gibt dort nur lokale oder lokalisierbare Ansätze, aber keinen Gesamtüberblick, weder in struktureller noch in funktioneller Hinsicht. Einen Ansatz für ein solches Modell kann die Systemtheorie liefern. Sie ist kein speziell humanwissenschaftlicher, sondern ein allgemeiner Zugang zu dem komplexen Thema (menschlicher) Organismus.

Systemtheorie als Bindeglied.

Naturwissenschaftliche und nichtnaturwissenschaftliche Herangehensweisen an das Thema scheinen nicht kompatibel zu sein bzw. werden zu können. So stehen sich etwa neurophysiologische Begriffe wie ‚neuronale Erregungsmuster‘ und ‚Denken‘ aus der Psychologie gegenüber, ohne dass man ersteren hinreichend mit letzterem beschreiben könnte und umgekehrt. Hier kann die Systemtheorie eine Verbindung dieser „zwei Welten“ schaffen, indem sie Begriffe beider Seiten übersetzt und so zusammenführt. Auf diese Weise werden psychologische Begriffe letztlich physikalisch erklärbar, ohne einen bloßen Reduktionismus anzuwenden.

Ein solches systemtheoretisches Modell des (menschlichen) Organismus führt Strukturen und Funktionen auf ihre einfachsten Zusammenhänge zurück. Dasselbe gilt für die Kategorien, die sie beschreiben. Um dies umzusetzen, müssen Strukturen und Begriffe von Anfang an entwickelt werden. Es ist also notwendig, die Grundfrage der Humanwissenschaft neu zu stellen: Was ist Leben?

 

Was ist Leben
Selbstorganisation als Wachstum

Das Paradigma der Selbstorganisation beschreibt Leben als autopoietisches System, das sich selbst reproduziert und damit auch repariert, beginnend mit den ersten stabilen Reaktionszyklen im Übergang zum Leben bis hin zu komplexen Denkmustern beim Menschen. Was aber ist Selbstorganisation? Sie basiert auf einem einfachen Naturprozess, nämlich Wachstum und in der Folge Reduktion. Dieses Prinzip zeigt sich in allen Lebensäußerungen, vom Stoffwechsel-  bis zum Denkprozess. Es läßt sich wahlweise bezeichnen als Energieaustausch zwischen Organismus und Umwelt oder aber als Entropieimport bzw. –export in der Terminologie der Informationstheorie Shannons. Es ist dasselbe Prinzip, für das Jean Piaget für das Denken die Begriffe Assimilation und Akkomodation verwendet hat. Wie aber kommt es zu Wachstum? Es handelt sich um die Assoziation oder besser Agglomeration von Gleichem bzw. Kompatiblem. Auf Stoffwechselebene ist dies die Nahrungsaufnahme, auf der Ebene des Denkens das assoziative Denken, als Basis aller Denkprozesse. Diese Assoziation erfolgt aufgrund der 'Valenzen' der Teile und bildet nach der Agglomeration neue Valenzen.
Wachstum und Reduktion sind die Triebfedern der Evolution. Die Umwelt stellt dem Organismus Möglichkeitsräume zur Verfügung, in welche dieser je nach Umstand mehr oder weniger „hineinwächst“. Mutation und Selektion sind dabei phänomenologische Beschreibungen. Mutation erscheint als eine von mehreren Möglichkeiten, Selektion als deren Realisation. Agglomeration, also Wachstum, ist das „Sammeln“ von Elementen, Reduktion deren Zusammenfassung. Dieser Prozess erfolgt im Sinne der Aufrechterhaltung der Systemstabilität. Er ist nichtlinear, gekennzeichnet durch Symmetriebrüche, einzelne Attraktoren treten als Regler auf, also gewissermaßen als Differential, welches die Systemintegrität garantiert. Es ist ein emergentes System mit eigener Logik und es ist offen und damit entwicklungsfähig.

Der reine Zufall in der Evolutionstheorie ist ein Konstrukt, das einleuchtend erscheint. Es wurde gebraucht, um sich von Theisten und Teleologen abzugrenzen.

Genetische Veränderung verläuft im Sinne einer Störung als Auflösung von Ordnung und Entstehung von Chaos, in dem dann tatsächlich Zufall regiert.

Systemkonforme genetische Veränderung aber basiert auf dem genetischen Mosaik einerseits und einer diskreten Interaktion zwischen Genom und Umwelt. Entwicklung mit Übersteigungen (Piaget) führt dazu, dass entsprechende Impulse von außen schnell umgesetzt werden können (response), so dass mitunter extrem schnelle und effektive Adaptionen erfolgen können.

 

Betrachtet man Leben phänomenologisch und epistemisch völlig neutral, so fallen mindestens zwei Dinge auf: 1. bewegt sich Leben selbständig und 2. bewegt es sich 'sinnvoll', und zwar so, dass sein Überleben gesichert wird. Damit unterscheidet es sich grundlegend von allem Unbelebten, welches sich eben nicht selbständig bewegt, obwohl Leben nur aus unbelebten Bausteienen besteht.
Das Geheimnis liegt also in der Art und Weise des Zusammenspiels dieser unbelebten Bausteine, mithin in deren Struktur.
Man muss also sowohl nach dem 'Antrieb' als auch nach einem 'Steuermodul' suchen.
Der 'Antrieb' basiert darauf, dass sich aus Molekülen ein Reaktionskreislauf gebildet hat, der sich mittels Energiezufuhr selbst erhalten hat und sich irgendwann von seiner Umwelt 'abgekapselt' hat. Damit war die erste Zelle in der Welt und damit ein völlig neues Organisationsprinzip von Materie.
Das Steuerprinzip kann man so beschreiben, dass sich eine Menge von Variablen im Laufe der Zeit (nichtlinear und asymptotisch) einem bestimmten Wert nähert und dann im weiteren Zeitverlauf in der Nähe dieses Wertes, also dieses Attraktors bleibt. Ein Attraktor erscheint als klar erkennbare Struktur. Umgekehrt heißt das, dass sich die Gesamtstruktur in ihrer Bewegung an diesem Attraktor orientiert, und zwar in dem Sinne, dass physikalische und chemische Prozesse von diesem Attraktor beeinflusst werden. Der Attraktor bestimmt also die Art und Weise der Bewegung des (biologischen) Systems.
Was in der Phase der chemischen Entwicklung von Leben der chemische Attraktor war, wird in der biologischen Phase der Evolution der biologische Attraktor. Und dieser hat dieselbe Eigenschaft wie die Gesamtstruktur: Selbststeuerung. Damit gibt es ein Steuerungssystem im System. Biologische Systeme entwickeln sich also asymmetrisch und nichtlinear.
Raumzeitlich wird der biologische Attraktor immer 'größer' und stabiler. Er agglomeriert immer mehr Energie, transformiert sie und erhöht damit seine Konzentration, besser: seine Strukturdichte. Man kann auch sagen, das Gesamtsystem bewegt sich in jene Richtung, in welcher sich Wertigkeiten (Valenzen) befinden, die mit den Eigenschaften (Valenzen) des Attraktors kompatibel sind. Das Gesamtsystem wird also sensibel gemäß den Valenzen des Attraktors.
Man kann nun auf allen Entwicklunssufen von Leben nach dieser jeweiligen Strukturdichte suchen und sie als eigenes System im System benennen.
Wie ensteht die Strukturdichte von innen betrachtet?
 Eine ständige Agglomeration von Energie würde ein rein quantitatives Wachstum bedeuten. Wir sehen aber eine ständige Zunahme von Differenziertheit. Das bedeutet, Quantität muss in Differenziertheit verwandelt werden. Wie geschieht das? Indem Quantität reduziert wird. Man kann sich das am besten vorstellen wie eine Fourier-Transformation, bei der sich überlagernde Strukturen reduziert und differenziert werden. Dichte bedeutet Differenziertheit. Graphentheoretisch gesprochen nehmen Knoten und Kanten durch Energiezufuhr, Überlagerung und Reduktion ständig zu und erlauben damit eine immer feinere (Verhaltens-) Anpassung an Umwelt. Gleichzeitig werden auch die Valenzen immer feingliedriger.
Als differenziertestes System (im Universum) darf das menschliche Gehirn angenommen werden. Es ist somit nichts anderes, als das vorläufige Ergebnis dieses Differenzierungsprozesses von System und Attraktor. Auch diese Systemstufe verhält sich nach den genannten Regeln. Das heißt, das Steuersystem namens Gehirn agglomeriert valenzbasiert, reduziert und differenziert sich weiter.
Auf dieser Basis lassen sich die Binnenbeziehungen konstitutiv und regulativ beschreiben, ebenso die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt.

In den Binnenbeziehungen entsteht durch unterschiedliche Strukturdichten innerhalb einer Ebene aber auch zwischen den Ebenen ein Strukturgradient, welcher eben diese kausale Wirkung ausübt, von der oben als Attraktor schon die Rede war. Die regulative Wirkung auf geringere Strukturdichten bewirkt dort eine Änderung, die wiederum konstitutiv auf die höhere Dichte zurückwirkt (Feedback-Loops).
Interne wie externe Beziehungen sind ideale Darstellungen, die real meist mehr oder weniger gestört sind. Störungen (Anstieg der Entropie) sind förderlich, soweit sie sich innerhalb der Systemgrenzen des Organismus bewegen, ansonsten treiben sie das System ggf. in einen neuen (pathologischen) Grenzzyklus. Störungen innerhalb der Systemgrenzen treiben das System weiter an, indem sie es 'zwingen', Entropie zu reduzieren, indem es die Strukturdichte erhöht.

Bewusstsein ist also eine Funktion des Gehirns und wird gespeist sowohl durch den Körper wie durch die Umwelt. Es ensteht an denjenigen Stellen im Gehirn, an denen sich jene Strukturdichte zeigt. Ich nenne diese Strukturdichte Metastruktur. In ihr werden Strukturmerkmale grobkörnig zusammengefasst. Dort kulminiert die Orientierungsleisstung des Organismus in immer abstrakteren Formen.
Das, was wir als Selbstbeobachtung bzw. Selbstreflexion bezeichnen ist letztlich ein Attraktor im Attraktor. Dort werden gleichzeitig Orientierungsleistung mit sozialen Bedeutungen synchronisiert, gekoppelt und valenzbasiert bewertet.

 

Regulationsebenen
Von der Zelle zum ZNS

Ein lebendes System in seiner Umwelt regelt also seinen Austausch mit dieser selbst. Die Elemente dieses Systems eignen sich für die Art und Weise, wie das System die Umweltbeziehung gestaltet. Wir können also von einem Regulationssystem sprechen, das nach innen, hinsichtlich seiner Elemente, derselben Logik folgt, wie nach außen. In der Entwicklung des Lebens evolvieren diese Regulationssysteme und differenzieren neue Logiken aus. Der Ursprung des heutigen Lebens, die eukariotische Zelle, betrieb ihre Regulation auf der Basis der Bildung von Proteinen. Sie war die Grundlage des Energie- bzw. Entropieaustausches. Der nächste Differenzierungsschritt waren Mehrzeller. Die Logik könnte man plasmatisch nennen, da dies die Art und Weise des Energieaustausches darstellt. Mehrzeller finden sich in Form von Gewebe im Körper und bilden eine eigene Regulationsebene. Die nächste Stufe der Regulation bilden die Organe, man könnte ihre Logik hormonell nennen, da sie steuernd für Stoffwechsel, Kreislauf und Nerven wirkt. Schließlich entsteht das zentrale Nervensystem als bislang differenzierteste Form der Regulation. Es repräsentiert den Gesamtorganismus und hat die führende Rolle inne, nicht nur, weil es in jeden Winkel des Körpers reicht, sondern, weil es alle anderen in sich vereinigt. Es besteht aus Zellen, Gewebe und ist schließlich „Organ“.

Kausale Emergenz
Makro beats (regulates) Micro, Top-Down Regulation, Bottom-Up Konstitution

Welche Beziehungen bestehen zwischen den einzelnen o.g. Regulationsebenen? Die kausale Emergenztheorie von Eric Hoel beantwortet dies. Sie trifft zwei Aussagen: Zum einen die, daß das Makro das Mikro schlägt, zum anderen, daß die höchste Systemebene die darunterliegenden kontrolliert. Eine ganze Reihe von Untersuchungen stützt dies inzwischen (Bert,u.a., Walker,u.a.). 
Hoel leitet diese Theorie mathematisch her, auf Grundlage der Shannonschen Informationstheorie und unter Verwendung von Markov-Ketten mittels künstlicher neuronaler Netze. "Im Großen und Ganzen schlägt das Makro das Mikro, indem es redundante oder verrauschte Elemente gruppiert, um ihre Ursache-Wirkungs-Leistung zu erhöhen." Hoels Ansatz ist bereits im Paradigma der Selbstorganisation angelegt, wenn etwa neue Regimes die einzelnen Elemente zwingen, nach ihren Regeln zu agieren. Verallgemeinert könnte man sagen, Leben zwingt Moleküle, Dinge zu tun, die diese in der unbelebten Natur nicht tun würden (und auch nicht könnten). Es handelt sich möglicherweise um ein allgemeines Prinzip, das für das ganze Universum gültig sein könnte. Und es gilt nicht nur auf der Funktions-, sondern auch auf der Betrachtungsebene: Ein hoch geordnetes System verfügt über ein hohes Maß an effektiver Information und es sendet diese Information auf der uns adäquaten Skala an uns aus. Dies könnte der Grund dafür sein, daß uns die mesoskopische Welt, in der wir leben, vertraut ist und wir sie und ihre Gesetzmäßigkeiten schnell erkennen. Effektive Information kann auch beschrieben werden als minimale Entropie bzw. als hochgeordneter Zustand.

Überträgt man Hoels Theorie auf den gesamten Organismus und seine Entwicklung, läßt sich dies zeigen als stufenweise Generierung von Systemzuständen, die jeweils Kontrollfunktion haben. Dabei kann es sein, daß die größte effektive Information erreicht ist und die nächsthöhere Stufe keinen Zuwachs bringt oder die effektive Information wieder abnimmt. Dies könnte eine Rolle spielen bei der Frage, welcher Teil des Gehirns für den Gesamtorganismus die größte effektive Information enthält.

Nimmt man das Gehirn mit seinen drei Teilen Stammhirn (Vitalfunktionen), Mittelhirn (gemeint ist hier und im Folgenden der gesamte Bereich, der sich aus dem Mittelhirnbläschen bildet) und Großhirn (abstraktes Denken), so hat sicherlich das Großhirn die höchste EI (effektive Information), denn es ist der Bereich, mit dem wir hauptsächlich mit der Umwelt interagieren. Bezogen auf den Gesamtorganismus liegt die größte EI für das Individuum wahrscheinlich im Mittelhirn, da hier Informationen aus Großhirn (gesellschaftliche Bedeutungen) und Stammhirn (Befindlichkeit) zusammenfließen und bewertet werden.

Ich ergänze Hoels Theorie, indem ich sage, die höchste Systemebene reguliert die darunterliegenden, während die „unteren“ die oberen konstituieren.

Die Sichtweise der kausalen Emergenztheorie widerspricht der klassischen naturwissenschaftlichen Methode, nach der die „Wahrheit“ auf immer kleineren Skalen zu suchen ist und nach der es eine Linearität vom Mikro zum Makro gibt, welche als Erklärungsrichtung gilt. Und sie ergänzt sie auch.

 

Informationsverarbeitung
Schnittstellen, Störung, Grenzzyklen, Zufall

Wie sind diese Regulationsebenen miteinander verbunden? Regulative Impulse von oben werden auf die nächste Ebene übersetzt, also bioelektrische Signale in hormonelle, diese in plasmatische und schließlich in proteinbildende. In umgekehrter Richtung erfolgt die Rückmeldung. Erfolgt auf einer Ebene eine Störung verliert die Ebene ihre Kontrollfunktion und auf der nächstunteren Ebene entsteht Chaos. Chaos bedeutet, dass der Zufall regiert und das System in Grenzzyklen gerät, die, wenn sie dauerhaft die Stabilitätsgrenzen des Systems überschreiten, Krankheit auslösen. Induktoren können psychisch, toxisch oder durch Strahlen verursacht sein. Entsteht auf der der Zelle übergeordneten Ebene (extrazelluläre Matrix oder Zellverband) eine Störung, gerät der Zellstoffwechsel außer Kontrolle, die Genregulation wird chaotisch, Krebsgene werden (zufallsbedingt) aktiv und lösen Krebs aus (wobei Art und Anzahl entscheidend sind).

Diese Art der Informationsverarbeitung zeitig einerseits Störungen, andererseits entsteht auf demselben Weg Gesundheit. Das o.g. Differential regelt Störungen zurück. Allerdings fluktuiert es evolutionär aufgrund zunehmender Komplexität, es arbeitet also nicht so direkt, wie etwa auf Zellebene.  Auf der Ebene des ZNS kann es unterstützt werden. Wir nennen das Ergebnis dieser Unterstützung Placeboeffekt. Es gibt allerdings keine lineare und direkte Kausalität. Nehmen Sie zwei miteinander verbundene Systeme (was in der Natur der Normalfall ist), dann übt System A einen Einfluss auf Elemente des Systems B aus, wie sich aber die Elemente im System B verhalten, weiß man nicht. Man weiß nur, dass es einen Einfluss gibt. Und dieser ist nichtlinear. Organische Schnittstellen induzieren immer nichtlineares Verhalten. Dasselbe gilt für Systeme C und D. Bezeichnen wir System A als Zentralnervensystem bis D die einzelne Zelle, dann ist dies das nichtlineare Funktionssystem des Oganismus. Bei einer hohen Informationsdichte von A ergibt sich eine Kausalität in Richtung B und so weiter (A→B).

 

Chronizität
Redundante, sich überlagernde Schleifen auf allen Regulationsebenen, wiederkehrende Grenzzyklen als Krankheit

Selbstorganisation, also Wachstum und Reduktion, verläuft in sich überlagernden asymmetrischen redundanten Zyklen. Es gibt unzählige Taktgeber, die diese Zyklen triggern. Die "Informationsverarbeitung" über die einzelnen Regulationsebenen hinweg verläuft über die Schnittstellen als zyklische Synchronisation der unterschiedlichen Modi. Dasselbe gilt nicht nur für „intakte“ Zyklen, sondern ebenso für pathogene Grenzzyklen. Krankheiten könnten beschrieben werden als zyklische Überschreitung der Stabilitätsgrenzen der jeweiligen Regulationsebene und deren Verstetigung. Aus anderer Sicht könnte man sagen, einzelne Elemente des Gesamtsystems verlieren tendenziell ihre Emergenz. Deren Elemente sind nicht mehr synchron und werden chaotisch. Das System oszilliert divergent. Neben der zweidimensionalen Regulationsebene und der dreidimensionalen Überlagerung der Ebenen erhält das System also eine vierte Dimension, nämlich die Zeit.

 

Bewusstsein und Ich
Die Vorstellung, dass neuronale Netzwerke, Muster oder Cluster Denken und Bewußtsein bestimmen, ist nahezu trivial. Selbstorganisation wirkt hier ebenso und ist die Erklärung für Ich, Bewußtsein und Denken. Das Ich entsteht aus der Überschneidung von Afferenzen aus dem Großhirnbereich, dort wo die gesellschaftlich induzierte Symbolik verarbeitet wird, sowie aus dem Stammhirnbereich, aus dem Informationen über den Körperstatus eingehen, gesteuert durch die genetischen Programmierung. Es ist eine teilautonome Instanz, ein Teil befindet sich oberhalb, ein anderer unterhalb der Bewußtseinslinie. Das (bewußte und unbewußte) Ich orchestriert das Denken und „wächst“ durch das Denken selbst. Es ist gleichzeitig Filter, das eingehende Informationen nach Bedeutungshaftigkeit sortiert und bewertet (limbisches System). Ohne die Instanz des Ich lassen sich neuronale Prozesse nicht begreifen. Sein Kern liegt vermutlich im Bereich des Mittelhirns, aber es erstreckt sich letztlich über das gesamte Gehirn. Wenn es „wächst“, wachsen neuronale Verbindungen, es ist mehr oder weniger stabil, Schizophrenie ließe sich erklären als ein mehr oder weniger duales Wachstum des Ich als desintegriertes System. Es reorganisiert, es spiegelt sich selbst, es empfindet. Denkbar ist ein neuronales Muster, welches die Aktivität des Ich intern abbildet und als Basis des reflexiven Ichs gesehen werden kann, möglicherweise durch die sogenannten Spiegelneuronen. Die Afferenzen bilden neuronale Muster, die assimiliert und akkomodiert (Fouriertransformation) werden und sich "schichtweise" zu einem immer tieferen Netzwerk verbinden. Das Ich ist nicht physisch verortet, es ist holographisch und akzentuiert je nach Tätigkeit verschiedene Areale. Und ebenso holographisch ist das Bewußtsein. Wir erleben uns und die Welt immer ganzheitlich. 

Das Ich ist also ein Zentrum maximaler effektiver Information. Damit schließt sich eine Erklärungslücke, die weder Neurowissenschaft noch Behaviorismus füllen können. Wenn man komplexe Handlungen, wie etwa das Führen eines philosophischen Gesprächs, nicht mit einem einfachen Reiz-Reaktionsschema begründen will, braucht es eine Instanz, die dies steuert. Neuronale Netze liefern diese Begründung nicht aus sich selbst heraus. Dort kennt man gerade das Problem der Black-Box.

Mit diesem Ansatz eines Steuerzentrums mittels maximaler effektiver Information lässt sich jedes biologische System erklären, auch der Übergang zum Leben. In primitiven Reaktionszyklen entstehen „Inseln“ maximaler effektiver Information, welche steuernd wirken. Bei der Entstehung von Gedanken wäre die Frage interessant, ob die Informationsverarbeitung im Gehirn in der Weise eines virtuellen Hologramms geschieht. D.h. Denken und Bewusstsein werden nicht nur ganzheitlich erlebt, sondern auch so gespeichert, indem die Komplexität der Verbindungen sowie ihre Rückkoppelung auf das ICH, also das Zentrum maximaler EI eine virtuelle Verfügbarkeit einzelner Inhalte im gesamten (Groß-) Hirnbereich erlaubt. Es wäre ein analoges Prinzip zum optischen Hologramm.

Das Gehirn arbeitet multimedial und multimodal, indem es alle Regulationsebenen vereinigt: es ist Organ, besteht aus Gewebe und aus Zellen, es arbeitet proteinbildend, plasmatisch, hormonell und bioelektrisch. Ich bezeichne es als Integral. Also ist es weit komplexer als jede bisherige KI.

Der oben beschriebene Informationsfluss über alle Regulationsebenen bewirkt die teilweise Veränderung des Genoms, also die Programmierung des Organismus. Beide Seiten, Genom und Konnektom, sind zum Teil hoch plastisch.

 

Therapeutischer Ansatz bei mental verursachten Krankheiten
Überzeugung (konstruktive Gesundheit), Fokussierung (Aufmerksamkeit), Neuausrichtung (Ich bin gesund), Gesten und Kognition, Aktivierung des Differentials, Handlungsorientierte Narrative.

Dass somatische Prozesse durch mentale verursacht werden können, weiß man in der Psychosomatik und der Placeboforschung gut genug. Mit dem systemtheoretischen Ansatz der kausalen Emergenztheorie wird dies aber erst erklärbar. Wie genau funktioniert dies? Das Mittelhirn bzw. das Ich besitzt die maximale effektive Information für das Individuum. Über das Ich erfolgt die (unbewusste) Steuerung somatischer Prozesse. Da das o.g. Differential nicht auf dieselbe direkte Weise arbeitet wie auf Zellebene, muss es unter Umständen unterstützt werden, indem mit der Sprache des Unterbewusstseins gearbeitet wird. Es sind dies Symbole oder Narrative, denen eine positive Bedeutung zuerkannt wird. Gegenüber der bloßen Autorität die Arztes bei der Verabreichung eines Placebos sind handlungsorientierte Techniken nicht nur gezielter anwendbar, sie können auch nach etwas Übung vom Patienten selbst durchgeführt werden. Solche Techniken findet man in einigen fernöstlichen Heilmethoden. Sie funktionieren nicht etwa wegen ihres spirituellen Inhalts, sondern aufgrund der bildhaften Symbolsprache, die in den handlungsorientierten Techniken zum Ausdruck kommen. Wir kennen die besondere Verbindung von Gesten und Kognition aus der Forschung. Das Ich „konstruiert“ seine eigene Gesundheit mittels Überzeugung und Fokussierung und initiiert über die Schnittstelle zur „hormonellen“ Informationsverarbeitung den oben beschriebenen Kontrollprozess.

 

Ausblick
Mathematisierung

Eine Systemtheorie des menschlichen Organismus mit kausal emergentem Ansatz könnte durch Mathematisierung der vertikalen und horizontalen Prozesse objektiviert werden. Vor allem aber kann sie nahezu unbegrenzt erweitert werden, um einen ganzheitlichen Blick auf den Gegenstand zu werfen.

 

Verwendete Literatur:

-Abbott, L.F., Nelson, S.B.: Synaptic plasticity: taming the beast. In: Nature Neuroscience Suppl. 3 (2000)

-Berto Stefano, Miles R. Fontenot, Sarah Seger, Fatma Ayhan, Emre Caglayan, Ashwinikumar Kulkarni, Connor Douglas, Carol A. Tamminga, Bradley C. Lega, Genevieve Konopka, Gene-expression correlates of the oscillatory signatures supporting human episodic memory encoding  in: Nat Neurosci (2021). 

-Beubler E. (2011) Der Placeboeffekt. In: Kompendium der Pharmakologie. Springer, Vienna, auch: Eccles, -Ronald: „The Powerful Placebo in Cough Studies.“ In: Pulmonary Pharmacology and Therapeutics 15 (2002)

-Brown, T.H., Kairiss, E.W., Keenan, C.L.: Hebbian synapses: Biophysical mechanisms and algorithms. In: Annu. Rev. Neurosci. 13 (1990)

-Cahill, Larry et al., Amygdala activity at encoding correlated with long-term, free recall of emotional information

-Damasio, A., et al.: Subcortical and cortical brain activity during the feeling of self-​generated emotions. Nature Neuroscience. 2000

-Eigen,M., Peter Schuster: The Hypercycle – A Principle of Natural Self-Organization. Springer, Berlin 1979

-Epigenetik, in: https://lexikon.stangl.eu/1245/epigenetik/

-Fels,D.: Cellular Communication through Light. PLoS One 4, 4 (2009)

-Foerster, Heinz von und Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, 1998

-Frade, José María; Gage, Fred H., Hsg: Genomic Mosaicism in Neurons and Other Cell Types, New York 2017.

-George,S.; D. Evans; L. Davidson: A biologically inspired programming model for self-healing systems. In: Proceedings of the First ACM SIGSOFT Workshop on Self-Healing Systems (WOSS ’02), Charleston, SC, November 2002.

-Göbel Elisabeth: Theorie und Gestaltung der Selbstorganisation. Duncker und Humblot, Berlin 1998

-Goldin-Meadow, Susan u.a.  The Relation Between Gesture and Speech in Congenitally Blind and Sighted Language-Learners, in: Journal of Nonverbal Behavior June 2000, Volume 24, Issue 2

-Gregory Chaitin Algorithmic information theory, Cambridge University Press 1987

-Hebb DO: Organization of behavior. A neuropsychological theory. New York

herausgegeben von O. Frischenschlager, Martina Hexel, W. Kantner-Rumplmair, Marianne Ringler, W. Söllner, Ursula Wisiak

-Hoel, E. P., Albantakis, L., & Tononi, G. (2013). Quantifying Causal emergence shows that macro can beat micro. Proceedings Of the National Academy Of Sciences, 110(49)

-http://placeboforschung.de/de/placebo-nocebo

-https://flexikon.doccheck.com/de/DNA-Reparatur

-https://www.youtube.com/watch?v=yiNgrPGj6kU. Es geht dabei nur um die Visualisierung der Technik, die spirituellen Anteile im Video sind nicht Bestandteil des hier vorgestellten Konzepts

-Humberto R. Maturana and Francisco J. Varela, The Tree of Knowledge. The Biological ROCJts of Human Understanding. Boston & London: New Science Library, 1987

-Jean Piaget: Biologie und Erkenntnis. Über die Beziehungen zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen. Frankfurt am Main 1992

-Kohonen Teuvo: Self-Organizing Maps (= Springer Series in Information Sciences. 30). Springer, Berlin u. a. 1995

-Kriesel, D. Neuronale Netze, http://www.dkriesel.com/science/neural_networks

-Levy, Rick, Lou Aronica, Mit dem Geist den Körper heilen, Lüchow-Verlag

-Libet, Benjamin: Haben wir einen freien Willen? In: Christian Geyer (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Suhrkamp, 2004

-Locher, Cosima u.a. Is the rationale more important than deception? A randomized controlled trial of open-label placebo analgesia in: PAIN: December 2017 - Volume 158 - Issue 12

-Lugert, Sebastian, u.a. Quiescent and active hippocampal neural stem cells with distinct morphologies respond selectively to physiological and pathological stimuli and ageing, Cell Stem Cell, 7. Mai 2010

-Luhmann, N.: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden 3. A. 2008

-Macleod, Andrew K. , Richard Moore, Positive thinking revisited: positive cognitions, well‐being and mental health, in: Clinical Psychology & Psychotherapy Volume 7, Issue 1, Pages: 1-82 February 2000.

-Maly-Samiralow, Antje: Das Prinzip Placebo. Droemer Knaur, München 2014

-Mary Jane West-Eberhard: Development Plasticity and Evolution. Oxford University Press, 2003.

-Meissner, F. u.a. Social Network Architecture of Human Immune Cells Unveiled by Quantitative Proteomics
(2017) Nature Immunology,

-Monje, Michelle u.a. Targeting neuronal activity-regulated neuroligin-3 dependency in high-grade glioma
Nature. 2017 Sep 28;549(7673):533-537. doi: 10.1038/nature24014

-Nasr, Khaled, Pooja Viswanathan, Andreas Nieder, Number detectors spontaneously emerge in a deep neural network designed for visual object recognition, in: Science Advances Vol 5, No. 5, 01 May 2019

-Nummenmaa, Lauri u.a., Körperliche Karten von Emotionen, PNAS 14. Januar 2014

-O. Frischenschlager, Martina Hexel, W. Kantner-Rumplmair, Marianne Ringler, W. Söllner, Ursula Wisiak, Lehrbuch der Psychosozialen Medizin: Grundlagen der Medizinischen Psychologie, Psychosomatik, Psychotherapie und Medizinischen Soziologie, Springer-Verlag 2013

-Peter Jedlicka, Revisiting the Quantum Brain Hypothesis: Toward Quantum (Neuro)biology? In: Front Mol Neurosci. 2017; 10

-Poser, Manfred, Der Placebo-Effekt und sein klandestines Wirken im Heilungsprozess, in: Grenzgebiete der    Wissenschaft 65 (2016)

-Pribram,K.: Toward a holonomic theory of perception. 1975

-Prigogine Ilya: Non-Equilibrium Statistical Mechanics. Interscience Publishers, 1962

-Reiber, Hansotto: Die Entstehung von Form und Krankheit, in: Engels u.a. (Hrg), Ethik der Biowissenschaften, Berlin 1998.

-Scott F. Gilbert, David Epel: Ecological Development Biology. Integrating Epigenetics, Medicine and Evolution. Sinauer Ass. USA, 2009

-Shi, Siyuan , Prem Kumar, Kim, Fook Lee, Generation of photonic entanglement in green fluorescent proteins, in: Nature Communications 8

-Singer, W. Neuronal oscillations: unavoidable and useful? European Journal of Neuroscience 48, 2389-2398 (2018)
-Singer, W.; Lazar, A. Does the Cerebral Cortex Exploit High-Dimensional, Non-Linear Dynamics for Information Processing? Frontiers in Computational Neuroscience 10:99 (2016)

-Valles-Colomer,  Mireia, u.a. The neuroactive potential of the human gut microbiota in quality of life and depression,  in: Nature Microbiology 4, 623–632 (2019)

-Walker,S.,u.a. The Informational Architecture Of The Cell, July 2015 DOI:10.1098/rsta.2015.0057

-Wertheimer Max: Produktives Denken. Kramer, Frankfurt 1964