Die Erkenntnistheorie ist zentraler Bestandteil der Philosophie. Sie beeinflusst nicht nur die philosophische und wissenschaftliche Denkweise, sondern wirkt prägend auf das allgemeine Weltbild.
Allerdings gibt es unzählige Richtungen und davon ebenso viele Varianten, dass es nur wenige schaffen, ans Licht der Öffentlichkeit zu gelangen, und oft sind diejenigen am erfolgreichsten, die den
Zeitgeist am besten treffen.
Ich versuche hier einmal, einen eigenen Ansatz zu entwickeln, der zwar in Teilen Ähnlichkeiten mit anderen aufweist, jedoch nicht mit ihnen identisch ist.
Die Ausgangsfrage ist, was können wir erkennen und wie tun wir das? Unzweifelhaft nehmen wir die Welt nicht wie eine Camera obscura wahr, sondern wir transformieren die Realität in eine sensorische neuronale Realität.
Nehmen wir für einen Augenblick eine virtuelle Metaperspektive ein, tun also so, als wären wir etwas Ähnliches wie Gott. Dann sehen wir eine Welt, die in eine zweite Welt transformiert wird. Welt 1 ist die vom Menschen unabhängig existierende Welt, Welt 2 ist die anthropische Welt. Welt 2 ist für jedes Lebewesen eine andere, eigene Welt. Könnte ein Neutrino wahrnehmen, gäbe es auch eine Neutrino-Welt.
Für uns Menschen existiert aber nur Welt 2, eine Welt 1, die Kant als Ding an sich bezeichnen würde, existiert für uns nicht. Von daher gibt es keine objektive Wahrheit, die wir erkennen könnten und die in Welt 1 zu verorten wäre. Zwischen Welt 1 und 2 gibt es eine erkenntnistheoretische Grenze, die unüberwindbar ist, denn für unsere mentale Transformation haben wir keinen Code, mit dem wir auf Welt 1 rückschließen könnten.
Alle unsere philosophischen Begriffe, Erkenntnis, Rationalität, Vernunft, aber auch alle Wissenschaften einschließlich der Mathematik beziehen sich ausschließlich auf Welt 2.
Zwar gibt es Welt 1 für uns nicht, aber unsere anthropische Welt 2 basiert natürlich auf ihr, nicht als Abbild, sondern als spezifische Transformation.
So, wie ein Computer einen Zahlencode aus 0 und 1 in ein ausführbares Programm transformiert, mit dem man Bilder malen kann. Die Logik von Welt 1 wird also übersetzt in eine Logik der Welt 2. Jede
Spezies und - wäre das möglich - jedes unbelebte Teilchen hat seine eigene Welt 2.
Das bedeutet, dass es eine Beziehung von Welt 1 zu Welt 2 gibt, auch wenn Welt 1 für uns nicht existiert. Die Nichtexistenz bezieht sich hauptsächlich auf die Erkenntnis.
Da unsere Welt 2 nur für uns existiert, sie also relativ ist, bezeichne ich diese Sichtweise als anthropischen Relativismus.
Streichen wir Welt 1 aus unserem Weltbild, da es sie für uns sowieso nicht gibt, tritt Welt 2 für uns als die eine zu erkennende Welt in Erscheinung.
Unter diesem Gesichtspunkt ähnelt diese Idee einem Instrumentalismus in Verbindung mit einem Konstruktivismus. Beide gehen davon aus, dass die Welt zwar nicht absolut erkennbar ist, aber dass wir
durch unsere Erkenntnistheorien und Technologien eine immer bessere Annäherung an die Wahrheit erreichen können, wobei Wahrheit ebenso relativistisch zu verstehen ist.
Der Instrumentalismus etwa argumentiert, dass Erkenntnistheorien nicht dazu dienen, die Welt in ihrer absoluten Wahrheit zu beschreiben, sondern dazu, sie für uns begreifbar und handhabbar zu machen.
Erkenntnistheorien sind daher wie Werkzeuge zu verstehen, die wir einsetzen können, um unsere Umwelt zu verstehen und zu gestalten. Diese Position wurde hauptsächlich vertreten von Pierre Duhem.
Der Konstruktivismus argumentiert, dass wir die Welt nicht passiv wahrnehmen, sondern aktiv konstruieren. Unsere Erkenntnistheorien sind daher nicht einfach Abbildungen der Welt, sondern sie
bestimmen, wie wir die Welt wahrnehmen und verstehen. Diese Ideen finden sich auch in den Arbeiten von Jean Piaget.
Sowohl der Instrumentalismus als auch der Konstruktivismus sind Formen des relativen Realismus. Sie gehen davon aus, dass die Welt zwar existiert, aber dass wir sie nur insofern erkennen können, wie
wir sie uns vorstellen.
Diese Sichtweise wird auch von vielen Wissenschaftlern vertreten.
Der Unterschied beider Wissenschaftstheorien zu meinem Ansatz besteht in einer metaphysischen Lücke, die bei beiden nicht geschlossen werden kann. Bei beiden liegt die Nichterkennbarkeit einer
objektiven Wahrheit in einem Mangel, wohingegen ich die Nichterkennbarkeit einer Welt 1 (die nur aus Sicht einer virtuellen Metaperspektive existiert) in einer Transformation begründe, deren Code wir
nicht kennen. Die metaphysische Lücke besteht in der Tautologie, was wir nicht erkennen können, können wir nicht erkennen. Ein Grund wird nicht angegeben bzw. liegt in sich selber. Diese Lücke lässt
sich nur schließen, indem man einen Grund liefert, also ein drittes logisches Element einführt, eben in Form einer Quasi - Realität.
Näher liegt hier der Hypothetische Realismus, wie er im Rahmen der evolutionären Erkenntnistheorie vorliegt und etwa von Gehard Vollmer vertreten wird. Realität hat danach eine Struktur, wonach
kausale Relationen (Ursache-Wirkungs-Beziehungen) objektiv existieren und teilweise erkannt werden können.
Allerdings bleibt hier ebenso die Frage, warum die Realität nur teilweise erkannt werden kann. Die Lücke bleibt bestehen.
In meinem Ansatz gibt es keine objektive Realität – es sei denn eine nur aus einer Metaperspektive existente, nur mittels einer Hilfskonstruktion existierende. Realität existiert nur als Welt 2, also
als jeweils transformierte Realität, als neuronales Transformat.
Zwar transformieren wir in unsere Welt 2 Objekte und Relationen, allerdings wissen wir nicht, ob diese linear und vollständig transformiert werden.
Transformation und Retransformation.
Der Hauptunterschied aber ist der, dass wir Welt 1 nicht nur in Welt 2 transformieren, sondern auch umgekehrt durch unsere Handlungen Welt 1 verändern, obwohl sie (für uns) nicht existiert. Diese
Retransformation ist eine rein materiale und hat keinerlei erkenntnistheoretische Folgen. Folgen unseres Handelns gibt es (für uns) nur in Welt 2. Welche Auswirkungen es auf Welt 1 hat, werden wir
nie wissen.
Der große Transformator ist also unser sensorisches und neuronales System. Es ist in Wirklichkeit kein Erkenntnissystem, sondern ein Erregungssystem. Wenn wir von Erkenntnis im philosophischen Sinn
sprechen, meinen wir realiter die logische und operationale Anpassung unseres Organismus an eine Umwelt, die sich für uns als Welt 2 darstellt.
Aus der Transformation der Logik der Welt 1 ergibt sich unsere Logik der Welt 2, somit auch die der Mathematik. Insofern repräsentiert die Mathematik indirekt eine der Welt 1 innewohnende Logik. Sie
folgt damit einer phänomenalen Logik, deren Ontologie wir nicht kennen.
Wir bewegen uns also erkenntnistheoretisch an einer Oberfläche, deren ‚Tiefe‘ wir nicht kennen, nicht kennen können und auch nicht kennen müssen.
Und welcher Schule kann man diesen anthropischen Relativismus zuordnen? Am Materialismus der Welt 2 kann nicht gezweifelt werden, denn sie zeigt sich ausschließlich als materielle Welt, ohne dass
irgendwelche metaphysischen Medien anzunehmen sind. Da es eine Welt 1 für uns nicht gibt, erübrigen sich entsprechende Spekulationen. Eine Metaphysik gibt es nicht.
Als Konsequenz aus diesem anthropischen Relativismus ergibt sich, dass die Welt relativistisch ist, nicht nur unsere Welt 2 an sich, sondern man kann diese Welt ebenso aufteilen in verschiedene
Welten, wie es für verschiedene Spezies gilt. Es gibt demnach keine allgemeingültige Moral und Ethik, sondern jede Kultur hat das Recht auf eine eigene Identität.
Der Ausschluss jeglicher metaphysischer und transzendentaler Ideen bedeutet, den Fokus auf diese eine unsere Welt zu richten und dafür zu sorgen, dass sie erhalten bleibt.
Das Dilemma an der Erkenntnistheorie ist der Begriff Erkenntnis selbst, denn er suggeriert, dass sich in unserem Kopf eine Erkenntnismaschine befindet, die in der Lage ist, die Welt zu erkennen, und
zwar in einem transzendenten Sinn.
In Wirklichkeit befindet sich in unserem Kopf anderthalb Kilo Fleisch und Blut mit Nervenzellen durchsetzt. Diese haben sich im Laufe der Jahrmillionen als Folge der Einwirkung der Umwelt und in Auseinandersetzung mit ihr entwickelt und dienen der Orientierung in der Welt.
Dass dieses Nervengewebe eine Komplexität erreicht hat, die mithilfe von Sprache auch über transzendente Dinge nachzudenken erlaubt, ist nicht gleichbedeutend mit einer diesbezüglichen Erkenntnis.
Der Begriff der Erkenntnis, der hier übrigens ein metatheoretischer ist, unterschlägt, dass die Welt in unserem Kopf bzw. unserem Organismus mittels unseren Nerven eine neuronale Modalität erhält, also von vornherein neuronal instanziiert ist.
Somit ist die Welt, die unabhängig von uns existiert, für uns als solche gar nicht erst existent. Sie ist nur existent als abstrakte Realität, die wir durch unsere Sensoren in eine konkrete Welt transformieren.
Dieser metatheoretische Erkenntnisbegriff wird allzu oft verwechselt mit einem wissenschaftlichen, technischen oder Alltagsbegriff, bei dem es darum geht, Regeln aufzustellen, die der unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Welt dienlich sind.
Daraus resultiert dann auch die Vorstellung, man könne mithilfe der Wissenschaft transzendente Erkenntnisse erlangen. Erkenntnistheorie ist aber reine Interpretation und basiert lediglich auf Erkenntnissen von Wissenschaft und Alltag, ist aber nicht identisch mit ihnen.
Diese Interpretation hat der Mensch in jeder Epoche auf seine Weise vorgenommen. Platon, Aristoteles, Kant oder Hegel haben die Welt so interpretiert, wie sie sie in ihrer Zeit interpretieren konnten.
Die neuronale Instanziierung bringt nicht nur eine Erkenntnisgrenze für den Menschen mit sich, sondern ebenso für jedes Individuum. Das ist der Grund, warum sich der Einzelne nicht seinen Nachbarn
hineinerleben kann. Er kann ihn nur von außen beobachten. Und jedes Individuum spannt seine eigene, artspezifisch geprägte Raumzeit auf. Der Raum entsteht als mehrdimensionaler Raum durch die
Auffächerung mittels einer hochkomplexen neuronalen Struktur, die Zeit entsteht durch den organismischen Takt, vor allem durch den Herzschlag und natürlich getriggert durch Umweltrhythmen.
Daraus ergibt sich die Relativität nicht nur der Individuen untereinander, sondern ebenso der Kulturen und deren politisches Handeln.
Als ethische und moralische Konsequenz aus einer solchen Erkenntnistheorie folgt ein Kulturrelativismus, der jegliche Form einer kolonialen Werteobstruktion verbietet. Dies gilt dann in alle
Richtungen.