Dr. Wolfgang Stegemann
Dr. Wolfgang Stegemann

Selbstorganisation von innen betrachtet

Da schließen sich Moleküle zu einem Reaktionskreislauf zusammen und wir beobachten, dass dieser Kreislauf sich reproduziert, sich an seine Umwelt anpasst und sich weiterentwickelt. Wir bezeichnen diese Eigenschaft als Selbstorganisation.
Aber was ist Selbstorganisation, wie funktioniert sie oder einfach ausgedrückt, wie funktioniert Leben. Wenn man davon ausgeht, dass Leben nicht auf seine Bausteine reduziert werden kann, da man sonst erklären müsste, wie aus toten Bausteinen (Atome, Moleküle) Leben entsteht, muss Leben also aus der Art und Weise entstehen, wie diese toten Bausteine zusammenarbeiten.
Die Art und Weise bedeutet, es handelt sich um eine strukturelle Eigenschaft. Lebendige Selbstorganisation ist also eine Struktureigenschaft, manche nennen es auch Emergenz. Will man die Blackbox namens Selbstorganisation öffnen, muss man nach den inneren Mechanismen dieser Struktureigenschaft suchen, die diese von außen beobachtbaren Eigenschaften von Selbstorganisation hervorbringen, wie Adaption, Evolution oder die Aufrechterhaltung der Systemstabilität.


Selbstorganisation von innen betrachtet – oder: wie funktioniert Leben
Diese Mechanismen bezeichne ich als:


a. Metastrukturbildung
b. Valenzkopplung
c. adaptiver Randomwalk


a. Metastrukturen bilden sich im Zuge von Zustandsänderungen als Extrapolationen und Ordnungsbildung und haben durch ihre höhere ‚Informationsdichte‚ (Hoel) kausale Kraft (Steuerung). [1]


b. Valenzkopplung findet als Assoziierung kompatibler Strukturen statt und ist die Basis des Energie- (oder Informations-) austausches. Valenzen entstehen ausschließlich in Zusammenhang mit Strukturen (ähnlich der ’strukturellen Kopplung‘ bei Maturana). [2]


c. Adaption und Evolution geschieht in einem Phasenraum durch Versuch und Irrtum. Durch den adaptiven Randomwalk entstehen neue Phänotypen durch Ausnutzung von Möglichkeitsräumen und ändern dadurch auf der anderen Seite durch Rückkopplung die interne Steuerung (ähnlich der ‚konvergenten Rekonstruktion mit Übersteigungen‘ bei Piaget). [3]

 

Ein weiterer Aspekt kommt noch hinzu: Leben ist subjekthaft. Jedes Leben ist per Definition ‚von Geburt an‘ Subjekt. Es agiert. Seine Subjekthaftigkeit erhält es als System. Sie entsteht weder im einzelnen Baustein noch in der bloßen Summe derselben, sondern ausschließlich als Struktur.Zwischen Subjekt und ICH besteht eine analytische Trennung. Während das Subjekt die Ganzheit ontologisch wie organisch widerspiegelt, bezieht sich das ICH auf die jeweils differenzierteste Stufe der Selbststeuerung, nach außen wie nach innen, beim Menschen also auf das Gehirn und sein Bewusstsein.

 

In jedem Leben wirken dieselben physikalischen Bausteine nach denselben physikalischen Gesetzen. Und dennoch ist jeder Organismus verschieden, selbst eineiige Zwillinge. Könnte man genau hinsehen, würde man auch bei Einzellern derselben Art individuelle Unterschiede feststellen. Wie kommen diese Unterschiede zustande, wenn dieselben Elemente und Prozesse wirken? Es ist die Struktur, die den Unterschied ausmacht. Und daher kann die Physik nur die Bausteine beschreiben, nicht aber die Struktur. Dafür ist ausschließlich die Biologie zuständig. Sie muss hier ihre eigenen biologischen Naturgesetze formulieren.

 

Wie hängen die o.g. drei Prinzipien zusammen?
Nehmen wir ganz allgemein z.B. ein zweidimensionales abstraktes Netzwerk mit n Knoten. Erfährt dieses Netz eine Zustandsänderung, so verschieben sich die Knoten und bilden an einer bestimmten Stelle einen Bereich mit einer höherer (Informations-) Dichte. In biologischen Systemen wird diese Dichte genetisch gespeichert und bildet eine metastrukturelle Steuereinheit (aus).

Valenzkopplung bewirkt eine Zustandsänderung durch den notwendigen Energieaustausch, indem das biologische System nach kompatiblen Agenten sucht (zur Valenzkopplung auf neurobiologischer Ebene siehe [4]).

Dieser ‚Suchprozess‚ vollzieht sich durch den beschriebenen adaptiven Randomwalk innerhalb der durch die Valenz sowie die Umweltbedingungen gesetzten Grenzen des Möglichkeitsraumes durch Phasenverschiebung.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommen mathematisch formulierte Ansätze im Rahmen der evolutionären genetischen Algorithmen [5] oder der evolutionären Graphentheorie [6].

 

Die hier getroffenen Aussagen gelten für alle Evolutionsstufen, also vom Einzeller bis zum Menschen, also von der Proteinsynthese bis zum Bewusstsein. Dort würde man die drei Prinzipien bezeichnen als Bewusstsein und ICH (a), als assoziatives Denken (b) als Grundlage allen Denkens sowie als Lernen (c).

 

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[1] Stegemann, w., Bewusstsein aus Metastrukturen, in: https://philosophies.de/index.php/2022/04/03/bewusstsein-aus-metastrukturen/
[2] Maturana, H.R., Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living, Dordecht 1980.
[3] Piaget,J., Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Frankfurt 1981.
[4] Li, H., Namburi, P., Olson, J.M. et al. Neurotensin orchestrates valence assignment in the amygdala. Nature 608, 586–592 (2022). https://doi.org/10.1038/s41586-022-04964-y
[5] Zenil,H. et al., Algorithmically probable mutations reproduce aspects of evolution, such as convergence rate, genetic memory and modularity, Published:29 August 2018https://doi.org/10.1098/rsos.180399
[6] https://de.wikibrief.org/wiki/Evolutionary_graph_theory