Dr. Wolfgang Stegemann
Dr. Wolfgang Stegemann

Der Aufbau der Welt

1. Die Welt ist einheitlich als Kontinuum zu verstehen vom Kleinsten bis zum Größten. Dabei spielt es keine Rolle, ob Materie quantisiert ist oder nicht. Es ergibt keinen Sinn, zu glauben, dass für die Mikroskala andere Naturgesetze gelten sollen, als für die Makroskala. Dasselbe gilt für Determinismus und Indeterminismus. Warum sollten Makrosysteme deterministisch sein, während Mikrosysteme indeterministisch sein sollen. Es ist ein Beobachtungsproblem. Während wir in Makrosystemen Determinismus sehen, glauben wir, dass Mikroteilchen sich rein zufällig bewegen. Das scheint daran zu liegen, dass wir keinen Zusammenhang sehen zwischen Makro- und Mikroobjekten. Den kann es auch nicht geben. Denn Entitäten können sich gegenseitig nur innerhalb einer bestimmten Bandbreite von Größenordnungen determinieren. So kann ein Planet kein Sandkorn determinieren und umgekehrt. Der sog. Indeterminismus der Quantenwelt (Kopenhagener Deutung) ist ein Beobachtungs- und Messproblem.


2. Unsere Beobachtung der Welt ist nicht gleichbedeutend mit deren Gesetzmäßigkeiten, denn schon die Tatsache, dass es eine augenscheinlich infinite Konvergenz zwischen unserm Denken (‚Erkenntnis‘) und der Natur gibt, spricht dafür, dass wir die Natur nie vollständig verstehen und schließlich löst das bessere immer das schlechtere Paradigma ab. Das bedeutet, dass in einigen hundert Jahren das, was wir heute als wissenschaftlichen Fortschritt betrachten, längst überholt sein wird.


3. Die von uns beobachteten Phänomene wandeln wir jeweils in Ontologien um. Die Sichtweise der Ontologie:
Elektronen haben eine intrinsische Ladung und einen Spin, die quantisiert sind. Diese Eigenschaften sind nicht durch ihre Umgebung oder Wechselwirkungen mit anderen Teilchen bestimmt, sondern sind Teil ihrer grundlegenden Natur.
Die Sichtweise der Phänomenologie:
Die Quantisierung von Energie kann als Folge der begrenzten Auflösung unserer Messgeräte interpretiert werden. In Wirklichkeit könnten Energie und Masse kontinuierlich sein, aber unsere Instrumente sind nicht präzise genug, um dies zu erkennen.


Was wir mit unseren technologischen Möglichkeiten erforschen, muss nicht das Ende der Erkenntnis sein. Dies gilt mit großer Wahrscheinlichkeit auch für die Quantenphysik.


4. Jede von uns formulierte Ontologie repräsentiert einen bestimmten Realitätsausschnitt. Wir beschreiben mit unseren Mittel die Mikrowelt und verwenden dafür bestimmte Werkzeuge, und wir beschreiben die Makrowelt und verwenden dafür ganz andere Werkzeuge.

Die Beschreibung der Realität ist immer auch von unseren Techniken abhängig und die wiederum sind abhängig vom Erkenntnisgegenstand. Müssten wir die Mikrowelt mit groberen Werkzeugen untersuchen, würden nwir völlig andere Ergebnisse erhalten und müssten diese als Stand der Wissenschaft anerkennen.


5. Wenn wir von einem emergenten System sprechen, z.B. dem Gehirn, dann sprechen wir von einem ganz bestimmten Funktionszusammenhang und nicht von einem anderen. Wir meinen dann nicht einzelne Moleküle, sondern ein ganzes Gehirn und die damit verbundenen Phänomene, also nicht die Phänomene, die mit einzelnen Molekülen verbunden sind.

Verschiedene Theorien streiten also nicht darüber, ob ein Gehirn mehr ist, als die Summe seiner Teile, sondern einzig um die Perspektive, unter der das Gehirn gesehen werden soll. Sobald wir die Perspektive von einzelnen Molekülen auf das gesamte Gehirn ändern, ändert sich auch das Ergebnis der Untersuchung.


6. Es gibt also keine Ontologie des Gehirns 'von Natur aus', es gibt nur unsere Perspektiven. Wenn wir also fragen, ob es das emergente Gehirn auch unabhängig von unserer Beobachtung gibt, dann muss die Antwort lauten, es gibt dieses Gehirn, aber wie wir es beobachten, hängt von unserer modalen Existenz ab. Emergenz bedeutet also, dass wir Eigenschaften beobachten, die wir nicht sehen, wenn wir nicht das ganze Gehirn beobachten. Emergenz ist demnach keine abstrakte Eigenschaft an sich, sondern eine Eigenschaft für uns. Wir definieren und interpretieren Emergenz als eine bestimmte Eigenschaft, die es ohne uns nicht gäbe.


7. Unsere Kenntnisse über die Natur ergeben nur Sinn im Rahmen eines jeweiligen Funktionszusammenhangs. Nur in diesem Rahmen stellen wir Fragen an die Natur bzw. an die Realität. Unser Gehirn hat andere Eigenschaften als seine Einzelteile. Aber diese Eigenschaften ergeben für uns nur Sinn, weil wir es in einem bestimmten Sinnzusammenhang betrachten.


8. Der Aufbau der Welt existiert für uns als neuronale Konstruktion. Diese Konstruktion konvergiert mit der Realität, da wir Produkte dieser Realität sind. Sie konvergiert aber nur aus unserer Sicht. D.h., die Welt existiert zwar, aber wie wir sie wahrnehmen, hängt von unserer modalen Existenz ab. Wären wir ein mechanischer Reflex unserer Umwelt, könnten wir direkte lineare Rückschlüsse ziehen auf die Welt ziehen. Da wir aber sich selbst organisierende Subjekte sind und damit gegenüber der Welt relativ autonom, ist unsere ‚Erkenntnis‘ über die Welt relativ.


9. Innerhalb dieses Rahmens ergibt jede rationale Tätigkeit einen entsprechenden Sinn für uns. Und nur in diesem Sinnzusammenhang erlangen wir Kenntnisse über die Welt. Erfahren wir Dinge, die sich nicht in diesen Sinnzusammenhang einordnen lassen, neigen wir dazu, sie als übernatürlich zu bezeichnen. Dann suchen wir nach rationalen oder, wenn wir diese nicht finden, auch nach irrationalen Erklärungen.


10. Unsere Interpretation der Welt basiert auf Axiomen, die wir anhand empirischer Erfahrungen in Alltag und Wissenschaft konstituieren. Man könnte sagen, sie sind Ergebnis des Austausches einer Entität mit deren Umwelt. Die Frage, wie realitätsnah diese Axiome sind, ist nicht eine Frage von Anpassung, sondern von Überleben. Denn Anpassung bedeutet nicht automatisch Überleben und Überleben ist auch möglich mit nicht optimaler Anpassung. Auch hier gibt es einen Toleranzbereich.


Unsere Kenntnisse der Welt spiegeln diesen Toleranzbereich zu jeder Zeit wieder.
Fazit: Der Aufbau der Welt existiert zwar in materialer Weise, epistemisch existiert er nur innerhalb eines Sinnzusammenhangs, und dieser ergibt sich unmittelbar aus dem Trieb zum Überleben und mittelbar aus der Gesamtheit unserer Wünsche und Ängste. Unabhängig von uns ergibt die Welt keinen Sinn für uns. Daher gibt es auch kein ‚an sich‘, sondern nur ein ‚für uns‘.