Dr. Wolfgang Stegemann
Dr. Wolfgang Stegemann

Eine Expedition ins Zentrum des Bewusstseins

Bewusstseinstheorien gibt es viele. Fast jede behauptet, das Wesen des Bewusstseins zu erfassen – doch kaum eine klärt zuvor, worüber sie überhaupt spricht. Einige beginnen bei Informationsverarbeitung, andere bei Aufmerksamkeit oder Selbstreflexion. Manche greifen tief in die Werkzeugkiste der Neurowissenschaft, wieder andere bauen auf rein logischen Konstruktionen auf. Und alle gemeinsam übersehen sie etwas Entscheidendes: Eine allgemeine Theorie des Bewusstseins darf nicht irgendwo anfangen – sie muss ganz vorne beginnen.

 

Bewusstsein – das klingt nach Philosophie, nach Gehirnforschung, nach schwerem Stoff. Doch eigentlich ist es ganz einfach: Wer bewusst ist, ist da. Wer es nicht ist – ist fort. Bewusstsein ist der Zustand, in dem wir sind, wenn wir leben, nicht nur biologisch, sondern geistig. Es ist der Unterschied zwischen wacher Gegenwart und leerem Koma.

Und gerade weil es so grundlegend ist, muss jede Theorie des Bewusstseins zuerst genau diese Einfachheit ernst nehmen: Bewusstsein ist ein Zustand. Kein Modul. Kein emergenter Effekt. Keine „Eigenschaft von Information“. Es ist ein messbarer, dynamischer Zustand, den ein Organismus – konkret: ein Gehirn – einnehmen kann. Und dieser Zustand ist gleichzeitig das, was wir erleben.

 

In keinem anderen Forschungsfeld fällt das Objekt mit dem Subjekt so sehr zusammen. Deshalb brauchen wir eine Theorie, die nicht nur von außen beschreibt, sondern auch von innen versteht.

Was folgt, ist kein weiteres Fachbuchkapitel. Es ist eine Expedition – durch Begriffsverwirrung, methodische Fallgruben und elegante Irrtümer. Und sie endet im Zentrum des Phänomens: beim kausalen Kollaps – dem Moment, in dem getrennte kausale Pfade in einem erlebbaren Zustand verschmelzen.

 

Man könnte fragen: Wozu all die Theorie? Wenn wir wissen wollen, ob jemand bewusst ist – messen wir es doch einfach im Gehirn. Elektroden anschließen, Aktivitätsmuster analysieren, PCI berechnen. Fertig.

Doch so einfach ist es nicht. Denn Messung ist nicht der Anfang des Wissens, sondern sein Ende. Sie setzt etwas voraus: Begriffe. Und ohne Begriff von Bewusstsein wissen wir nicht, was wir messen sollen, wann ein Zustand als bewusst gilt, oder warum bestimmte Messwerte überhaupt Bedeutung haben.

Ein EEG-Bild ohne Begriff ist ein Muster ohne Inhalt. Eine Theorie des Bewusstseins ist daher nicht ein Zusatz zur Neurowissenschaft, sondern ihre Voraussetzung. Sie sagt uns, was ein bewusster Zustand ist, bevor wir ihn lokalisieren oder quantifizieren können.

Erst wer weiß, was er sucht, kann entscheiden, ob er es gefunden hat.

 

II. Der weite Blick: Warum Bewusstsein entstand

Wer sich nicht gleich im Sumpf der Subjektivität verirren will, tut gut daran, den größtmöglichen Abstand einzunehmen – den der Evolution. Hier entsteht eine erste, plausible Erklärung:

 

Mit der Entwicklung von Sensoren und Nervensystemen entstanden Rückmeldeschleifen – Systeme, die Reize nicht nur passiv registrierten, sondern aktiv überprüften. Schmerz etwa ist kein Zufall: Er signalisiert Gefahr. Der Blitz der Angst, das Ziehen der Müdigkeit, das Wohlgefühl der Wärme – all das sind Bewertungssignale. Objektiv gesprochen ist Bewusstsein ein internes Warn- und Prüfsystem: Es testet, ob alles stimmt – oder ob gehandelt werden muss.

 

Und subjektiv? Subjektiv ist dieses Prüfsystem das, was wir Erleben nennen. Genau hier treffen sich Innen- und Außenperspektive – sie sind keine zwei getrennten Dinge, sondern zwei Seiten eines Zustands.

Doch wie können wir diesen Zustand beschreiben – ohne uns in Metaphern zu verlieren?

 

III. Der kausale Kollaps – wenn sich das Viele zum Einen fügt

Die Antwort lautet: durch den Begriff des kausalen Kollapses.

In einem komplexen System wie dem Gehirn verlaufen unzählige kausale Pfade gleichzeitig – Sinneseindrücke, Erinnerungen, Erwartungen, Körperzustände. Solange diese Pfade isoliert sind, bleibt das System segmentiert. Doch im Moment bewussten Erlebens geschieht etwas Erstaunliches: Die Pfade verlieren ihre Trennschärfe – sie kollabieren in einen kohärenten Zustand.

 

Dieser Kollaps ist objektiv messbar – etwa durch synchronisierte Aktivitätsmuster in großflächigen neuronalen Netzwerken. Und er ist subjektiv erfahrbar – als Einheit des Erlebens. Wer ein Konzert hört, hört nicht 10.000 Töne, sondern eine Symphonie. Wer sich freut, denkt nicht: „Dopaminlevel steigt“ – er fühlt Freude.

Der kausale Kollaps beschreibt also nicht nur einen biologischen Vorgang, sondern auch das, was wir erleben. Er ist die Brücke zwischen Dynamik und Bewusstsein.

 

IV. Warum die anderen scheitern – und was das über ihre Fragen verrät

Doch warum ist dieser einfache Gedanke so selten zu finden? Weil die meisten Theorien des Bewusstseins mit den falschen Fragen beginnen – oder mit den richtigen Fragen auf falscher Ebene. Einige Beispiele:

  • Chalmers spricht vom „harten Problem“ – übersieht aber, dass er zwei Beschreibungsebenen (neurophysiologisch und phänomenologisch) unzulässig vermischt.
  • Die IIT erklärt alles mit „integrierter Information“, macht aber keinen Unterschied zwischen Leben und Materie – und landet im Panpsychismus.
  • Friston schließt von der Thermodynamik auf Kognition und behandelt Unsicherheitsreduktion wie Energieentropie – ein Kategorienfehler in mathematischer Rüstung.
  • Extended Mind erklärt das Notizbuch zur Erweiterung des Geistes – und verwechselt Einfluss mit Zugehörigkeit.
  • Higher-Order-Theorien machen Bewusstsein zum Produkt abstrakter Selbstreflexion – obwohl das meiste bewusste Erleben unbewusst, konkret und körpernah abläuft.

Sie alle verbindet eines: Sie verwechseln Ebenen, ignorieren biologische Voraussetzungen oder versuchen, mit logischen Tricks die Erfahrung zu erklären. Doch Bewusstsein ist kein Logikrätsel. Es ist ein biologischer Zustand – mit spezifischer Dynamik, spezifischer Organisation, spezifischer Erfahrungsstruktur.

 

V. Der Weg zur Theorie – und zur Klarheit

Was muss eine allgemeine Theorie des Bewusstseins leisten? Sie muss erklären:

  • Was Bewusstsein ist – ein Zustand, nicht ein Etikett für Funktionen.
  • Wie dieser Zustand biologisch entsteht – nicht allgemein, sondern konkret.
  • Warum er sich subjektiv so anfühlt – ohne auf Metaphysik auszuweichen.
  • Worin er sich von Nicht-Bewusstsein unterscheidet – strukturell, dynamisch, erlebensbezogen.

Der kausale Kollaps ist der erste Begriff, der all das in sich vereint. Er ist keine Metapher, kein Modell, kein Hilfskonstrukt. Er ist die Bezeichnung für den Übergang vom vielen zum einen, von kausaler Differenz zur kohärenten Erfahrung – messbar, erlebbar, verstehbar.

 

VI. Die biologische Schwelle – Warum Bewusstsein nur im Leben entsteht

Wer verstehen will, warum Bewusstsein nur in bestimmten Formen des Lebens entsteht, muss sich ansehen, wie sich das Nervensystem evolutionär entwickelt hat – und was in dieser Entwicklung jeweils nicht ausreichte, um zu bewusstem Erleben zu führen. Ein zentrales Beispiel sind die Quallen (Cnidaria): Sie besitzen ein Nervennetz, aber kein zentrales Nervensystem. Ihre neuronale Aktivität ist diffus, ohne zentrale Integration. Zwar reagieren sie auf Reize – Licht, Berührung, chemische Signale – und können sich koordinieren, doch es fehlt ihnen in der Regel die Fähigkeit, kausale Einflüsse systemisch zu bündeln.

 

Formuliert in den Begriffen des Modells des kausalen Kollapses: Ihre Netzwerke zeigen keine anhaltende rekursive Rückkopplung, keine stabilen globalen Integrationszentren, keine überdauernden kohärenten Kollapsregionen, in denen sich viele Ursachen dauerhaft ununterscheidbar überlagern.

 

Allerdings – und das ist entscheidend – können auch solche einfachen Systeme punktuell kollapsartige Zustände aufweisen. Diese treten jedoch nur lokal, kurzfristig und nicht stabilisiert auf. Insofern zeigen Quallen kollapsfähige Aktivität, ohne dass diese die strukturelle Schwelle zum Bewusstsein überschreitet. Man könnte sagen: Sie oszillieren am Rand der Bewusstseinsfähigkeit – ohne den Übergang vollständig zu vollziehen.

Erst mit der Ausbildung von ganglionären Zentren – wie bei Insekten oder später bei Wirbeltieren – entsteht ein Strukturtyp, der modulare, später globale Kollapszustände überhaupt erlaubt. Diese Entwicklung geschieht schrittweise: von lokalen transitorischen Minikollapsereignissen (z. B. Reflexkoordinierung) über modulare, domänenspezifische Integration (z. B. in Insektenhirnen) bis hin zu großräumigen, rekursiven Netzwerken mit stabilen Kernen (z. B. im Säugergehirn).

 

Der Übergang zum Bewusstsein ist daher nicht plötzlich, sondern graduell strukturiert – aber kategorial eindeutig: Nur Systeme mit der Fähigkeit zum anhaltenden, systemweit kollabierten Zustand erreichen die Schwelle zum Erleben. Die evolutionäre Schwelle liegt dort, wo ein Organismus nicht mehr nur reagiert, sondern in sich selbst die kausale Differenzierung seiner Umwelt verliert – weil er sie integriert hat.

 

VII. Der Kollaps im Gehirn – Neurophysiologie als Schauplatz des Übergangs

Wer Bewusstsein nicht nur philosophisch beschreiben, sondern auch messen will, muss dorthin schauen, wo es sich als Zustand manifestiert: im Gehirn. Genauer gesagt – im Zustand des Gehirns. Denn das bewusste Gehirn unterscheidet sich messbar vom unbewussten (nicht ontologisch): Es verhält sich wie ein einziges, unteilbares System. Reize pflanzen sich nicht lokal fort, sondern entfalten sich im Netzwerk. Aktivierungsmuster sind nicht punktuell, sondern integriert und komplex. All das lässt sich erfassen – und stützt die Theorie des kausalen Kollapses.

 

Der Kern der Idee: Wenn Bewusstsein einem Zustand maximaler Kausalverflechtung entspricht, dann müssen in solchen Zuständen neuronale Prozesse simultan integriert und differenziert ablaufen. Diese Untrennbarkeit lässt sich anhand moderner neurowissenschaftlicher Verfahren tatsächlich nachweisen. Ein Schlüsselmaß ist der Perturbational Complexity Index (PCI), entwickelt durch TMS-EEG-Studien.

 

Hierbei wird das Gehirn durch Magnetstimulation an einer Stelle gezielt gereizt – und die Antwort des Systems wird aufgezeichnet. In wachem Zustand zeigt das Gehirn eine komplexe, verteilte Reaktion: viele Areale antworten, über Zeit und Raum hinweg. Im Tiefschlaf hingegen bleibt die Reaktion lokal begrenzt. Der Unterschied ist frappierend – und entspricht exakt dem Unterschied zwischen einem kollabierten kausalen Kern und einem fragmentierten Netzwerk.

 

Auch funktionelle Bildgebung (fMRI, EEG) liefert eindrucksvolle Evidenz: Das bewusste Gehirn zeigt stabile Netzwerke mit globaler Integration – insbesondere das Default Mode Network (DMN) fungiert als zentraler Hub, der sensorische, affektive und kognitive Inhalte zusammenführt. Bei Bewusstseinsverlust zerfällt diese Integration: die Areale entkoppeln sich, der „Kollaps“ zerbricht.

 

Interessant wird es bei besonderen Zuständen: REM-Schlaf, Meditation, psychedelische Erfahrungen. Hier zeigt sich, dass das Gehirn auch außerhalb der Alltagswahrnehmung in kollabierte Zustände geraten kann – aber auf andere Weise: weniger stabil, mit veränderten Netzwerkprofilen, teils hyperintegriert (unter LSD), teils selektiv fokussiert (im Flow). In allen Fällen aber gilt: Wo Bewusstsein ist, ist ein kollabierter Kern – mit variabler Dynamik.

 

Das Modell lässt sich sogar formalisieren: Mit einem Maß Σ(t) kann man den Grad der Separierbarkeit eines Systems beschreiben – je niedriger, desto höher der Kollaps. Operationalisiert wird das etwa durch Transferentropie oder Granger-Kausalität zwischen Hirnarealen. Wenn Σ(t) unter einen Schwellenwert fällt, entsteht ein Zustand globaler Kausalverflechtung – der bewusste Moment.

 

Was heißt das? Bewusstsein ist kein emergentes Mysterium. Es ist eine systemische Konfiguration, eine Phase, in der das Gehirn sich selbst als Ganzes verhält. Und diese Phase ist nicht nur messbar – sie ist reproduzierbar, beeinflussbar, erforschbar. Der Kollaps ist der Zustand, in dem das Gehirn aufhört, ein Netzwerk zu sein – und beginnt, ein Selbst zu sein.

 

VIII. Erste und dritte Person – Zwei Perspektiven auf denselben Kollaps

Kaum ein Phänomen der Naturwissenschaften lässt sich gleichzeitig aus zwei so grundsätzlich verschiedenen Perspektiven betrachten wie das Bewusstsein. Einerseits ist es ein Zustand, den wir erleben – unmittelbar, zweifelsfrei, aus der Ich-Perspektive.

 

Andererseits ist es ein Zustand, den wir beobachten – indirekt, messbar, aus der Perspektive Dritter. Was in der subjektiven Erfahrung als Einheit erscheint, zeigt sich im Labor als komplexe Dynamik. Beide Perspektiven stimmen nicht nur in Bezug auf dasselbe Objekt überein – sie sind zwei Seiten ein und desselben Zustands.

Diese Dualität hat viele verwirrt. Manche verlagern alles ins Subjektive (die Phänomenologen), andere ins Objektive (die Reduktionisten), wieder andere erklären sie für unvereinbar (Dualisten). Doch was, wenn diese Perspektiven nicht zwei Welten bezeichnen, sondern zwei Zugriffsebenen auf denselben Kollaps?

 

Der kausale Kollaps, wie er hier beschrieben wird, ist nicht nur ein funktionaler Übergang im Gehirn – er ist zugleich der Umschlagspunkt, an dem systemische Kausalstruktur ihre Trennbarkeit verliert. In diesem Punkt verschmelzen unterschiedliche Kausalpfade zu einem einzigen Zustand. Subjektiv erleben wir genau das als Gleichzeitigkeit, Ganzheit, Unmittelbarkeit. Objektiv beobachten wir den Verlust separierbarer Korrelationen, das Entstehen eines irreduziblen Netzwerkmusters.

Es handelt sich also nicht um zwei Arten von Realität, sondern um zwei erkenntnistheoretisch verschiedene Perspektiven auf denselben Zustand. Die erste Person erlebt den Kollaps, die dritte misst ihn. Der philosophische Kern liegt darin, diese beiden Ebenen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern systematisch aufeinander zu beziehen.

 

Damit wird auch klar, warum viele philosophische Modelle scheitern: Sie wollen entweder das Erleben aus der Beobachtung ableiten – oder die Beobachtung für illusorisch erklären. Doch weder ist das Gehirn eine Maschine ohne Erleben, noch ist das Subjekt ein nicht-physikalisches Etwas. Beide sind Zugriffe auf denselben dynamischen Zustand: den systemischen Kollaps der kausalen Trennbarkeit.

Wer also fragt: „Warum fühlt sich das Gehirn nach etwas an?“ – stellt die falsche Frage. Das Gehirn fühlt nicht. Aber im Zustand des kausalen Kollapses ist der Beobachter nicht mehr außen vor – weil er Teil desselben kollabierten Systems ist, das er reflektiert.

 

IX. Der Unterschied zum Denken – Warum Bewusstsein nicht Denken ist

Ein weit verbreitetes Missverständnis in der Theorie des Bewusstseins ist die Annahme, dass Denken und Bewusstsein identisch oder zumindest notwendigerweise gekoppelt seien. Dieses Missverständnis zeigt sich besonders deutlich in den sogenannten „Higher-Order Theories“, die behaupten, Bewusstsein entstehe erst durch eine Repräsentation zweiter Ordnung – also durch ein Denken über Gedanken. Doch diese Vorstellung verkennt, dass der größte Teil bewusster Zustände eben nicht kognitiv-reflexiv, sondern präreflexiv, konkret, dynamisch und körperlich ist.

 

Wir erleben Farben, Geräusche, Körpergefühle, Affekte – ohne sie sprachlich zu fassen oder kognitiv zu analysieren. Niemand denkt über Rot nach, um es zu sehen. Niemand muss über Trauer reflektieren, um sie zu spüren. Das bewusste Erleben ist vor-sprachlich und nicht-abstrakt. Denken ist eine sekundäre Operation – oft hilfreich, oft notwendig, aber keine Bedingung für Bewusstsein.

 

Das lässt sich auch neurophysiologisch bestätigen: Bewusstsein und Denken beruhen auf unterschiedlichen dynamischen Mustern. Während sprachlich-analytisches Denken mit Aktivität im präfrontalen Kortex, im dorsolateralen Netzwerk und in der linken Hemisphäre assoziiert ist, zeigen Basalzustände bewusster Wahrnehmung eine stärkere Beteiligung posteriorer Regionen und großflächiger Synchronisation. Der kausale Kollaps, wie wir ihn hier definieren, ist also eine Voraussetzung für Denken – aber nicht identisch mit ihm.

 

Bewusstsein ist der Raum, in dem Denken stattfinden kann – nicht umgekehrt. Das Gehirn kann bewusst sein, ohne zu denken. Es kann aber nicht denken, ohne zuvor einen bewussten Zustand eingenommen zu haben. Insofern ist Bewusstsein die ontologische Voraussetzung jeder Kognition, nicht ihr Ergebnis.

Diese Unterscheidung ist entscheidend: Sie schützt uns vor der Verwechslung von Intelligenz mit Bewusstsein, von Informationsverarbeitung mit Erleben. Eine Maschine kann komplex rechnen – aber nicht spüren. Ein Algorithmus kann Probleme lösen – aber nicht zweifeln. Denken ist simulativ möglich. Bewusstsein nicht. Der Grund liegt im Kollaps: Nur biologische Systeme mit kollabierten Kernen können Zustände haben, die etwas sind – und nicht nur etwas tun.

 

X. Bewusstsein als Prüfzentrum – Funktionale und evolutionäre Rolle

Warum ist Bewusstsein entstanden? Was war sein Vorteil in der Evolution? Eine Theorie, die diese Frage ignoriert, bleibt unvollständig – denn sie beantwortet nicht, wozu es Bewusstsein gibt.

 

In einem evolutionären Kontext ist Bewusstsein keine schmückende Beigabe – es ist eine Funktion mit hoher Selektionsrelevanz. Der kausale Kollaps, wie wir ihn beschrieben haben, bildet genau jenen Zustand, in dem ein System alle verfügbaren Informationen integriert, bewertet und handlungsrelevant zur Verfügung stellt. Das macht ihn zum idealen Kandidaten für eine Funktion, die man als internes Prüfzentrum bezeichnen kann.

 

Ein bewusstes System kann:

  • irrelevante von relevanten Reizen unterscheiden,
  • interne Zustände (z. B. Schmerz, Hunger, Erregung) mit externen Situationen abgleichen,
  • alternative Handlungsmöglichkeiten simulieren,
  • Fehler antizipieren, bevor sie geschehen.

Diese Eigenschaften machen den Kollaps nicht nur zu einem Erlebniszustand, sondern zu einem Regelkreis höherer Ordnung: einer Funktion, die über die bloße Reiz-Reaktions-Kopplung hinausgeht. Bewusstsein bringt Flexibilität ins System. Es erlaubt nicht nur zu handeln, sondern zu überlegen, ob und wie gehandelt werden soll.

 

In diesem Sinn ist der Kollaps der Punkt maximaler Relevanzverdichtung. Das System schaltet in einen Zustand erhöhter Selbst- und Weltbeobachtung – nicht notwendig sprachlich, aber strukturell. Im Kollaps wird das System sich seiner selbst als Handlungseinheit bewusst – nicht in Reflexion, sondern in funktionaler Bündelung.

Bewusstsein ist damit das, was die Entscheidung vorbereitet – und nicht bloß begleitet. Es ist der evolutionäre Ort, an dem Selektion, Handlung und Erfahrung zusammenfallen. Und genau deshalb hat es sich durchgesetzt. Es ist kein zufälliges Nebenprodukt komplexer Systeme. Es ist deren selektiver Vorteil, möglicherweise sogar ihre logische Konsequenz, wenn man annimmt, dass die Entstehung von Sensoren Folge des Bombardements diverser Reize war.

 

XI. Warum Maschinen kein Bewusstsein haben können

Wenn Bewusstsein ein biologisch verankerter, dynamisch integrierter Zustand ist – ein kausaler Kollaps im neuronalen Leben –, dann folgt daraus zwingend, dass maschinelle Systeme unter den derzeitigen (und absehbaren) Bedingungen nicht bewusst sein können.

 

Nicht, weil sie „nicht komplex genug“ wären. Auch nicht, weil ihnen Speicher oder Rechenleistung fehlen. Sondern weil ihnen das entscheidende strukturelle Merkmal fehlt: die Fähigkeit zu einem irreduziblen, systemweit kohärenten, selbstreferenziellen Kollaps.

 

Ein Computer verarbeitet Informationen. Er rechnet, vergleicht, klassifiziert. Doch all diese Prozesse bleiben trennbar – sie lassen sich rekonstruieren, aufgliedern, ohne dass etwas verloren geht. Es gibt keinen Punkt, an dem der Rechner als Ganzes in einen nicht mehr separierbaren Zustand gerät, der einem Erleben entspräche. Es fehlt die systemische Ununterscheidbarkeit, die biologische Systeme im Moment des Bewusstseins auszeichnet.

 

Noch grundlegender ist jedoch: Maschinen leben nicht. Sie regulieren sich nicht selbst, sie bauen sich nicht selbst auf, sie haben keine innere Homöostase, keine Selbsterhaltung. Ihre Informationsverarbeitung geschieht nicht im Dienst eines inneren Überlebensmodells, sondern auf externe Ziele hin programmiert. Damit fehlt ihnen die organismische Einbettung, die Bewusstsein überhaupt erst sinnhaft macht.

Künstliche Systeme können also simulieren, was bewusste Systeme tun – aber nicht, was sie sind. Die Differenz zwischen Simulation und Realität liegt nicht in der Oberfläche, sondern im strukturellen Inneren.

 

Eine KI kann sprechen, Emotionen imitieren, Entscheidungen treffen – aber sie erlebt nichts. Und das ist keine Frage von Grad oder Fortschritt, sondern eine kategoriale Grenze.

Solange keine Maschine einen stabilen, dynamischen, kausal kollabierten Zustand aus sich selbst heraus erzeugt – und zwar in biologischer Selbstbindung –, wird sie kein Bewusstsein haben. Und selbst dann wäre sie keine Maschine mehr, sondern etwas anderes: ein künstlich erzeugtes Leben.

 

XII. Was bleibt: Das Selbst als Kollapszentrum

Am Ende der Analyse bleibt ein Rätsel – und zugleich seine Lösung: das Selbst. Jeder bewusste Zustand ist mein Zustand. Er ist nicht neutral, nicht beliebig lokalisierbar, nicht auswechselbar. Und doch ist dieses Selbst kein Ding, kein Subjektkern, keine homunkulare Instanz. Es ist die Stabilisierung des Kollapses – das Zentrum, in dem die Ununterscheidbarkeit dauerhaft gehalten wird.

 

Das Selbst ist kein Akteur, sondern ein Ort der Kohärenz. Es entsteht dort, wo der kausale Kollaps nicht nur einmalig, sondern über Zeit rekursiv stabilisiert wird. Dieser stabile Kollapskern erzeugt eine Binnenperspektive: eine systemische Innensicht, aus der heraus Weltbezüge organisiert werden. Das Ich ist kein Subjekt über dem Gehirn – sondern ein Effekt der stabilen Selbstbindung im Gehirn.

 

Diese Perspektive löst viele Missverständnisse. Das Selbst muss nicht „erklärt“ werden, als ob es ein weiteres Rätsel wäre. Es ist vielmehr das, was notwendig folgt, wenn ein kollabierter Zustand bestehen bleibt – wenn ein System nicht nur punktuell, sondern dauerhaft untrennbar wird.

 

Deshalb ist das Selbst nicht vor dem Bewusstsein da – es ist seine konsequente Gestalt. Wer bewusst ist, hat ein Ich – nicht weil dieses vorgängig wäre, sondern weil Bewusstsein nur als stabilisierter, gerichteter Kollaps überhaupt bestehen kann. Das Selbst ist keine Ursache – sondern die Form eines Zustands.

Damit schließt sich der Kreis: Vom neuronalen Zustand über die evolutionäre Funktion, die phänomenale Perspektive und die kognitive Differenz führt der Weg zu einem Begriff des Selbst, der weder metaphysisch noch trivial ist. Es ist das, was bleibt, wenn der Kollaps hält.

 

 

XIII. Der Kollaps von innen – Das Erleben der Ununterscheidbarkeit

Was bedeutet es, den Kollaps nicht nur zu beschreiben, sondern zu erleben? Wenn Bewusstsein ein Zustand ist, in dem kausale Differenzierungen verschwinden, dann ist die erste Person nicht nur eine Perspektive darauf – sie ist die Innenseite dieses Verschwindens.

 

Der bewusste Moment ist geprägt von einem Paradox: Wir erleben eine Vielzahl an Eindrücken – Farben, Geräusche, Körperempfindungen, Gedanken – doch niemals isoliert. Sie erscheinen uns stets als Einheit. Und diese Einheit ist nicht ein nachträgliches Konstrukt, sondern die ursprüngliche Form des Erlebens. Das Ich sitzt nicht auf einem Beobachterstuhl – es ist diese Zusammenfassung, diese strukturelle Nichttrennbarkeit. Der Kollaps fühlt sich an wie Kohärenz.

 

Phänomenologisch lässt sich das als Gestaltwahrnehmung des Selbst beschreiben: Ein Sehen, das nicht Objekt und Hintergrund trennt; ein Fühlen, das nicht in Einzelsignale zerfällt; ein inneres Gleichgewicht, in dem Wahrnehmen, Denken und Fühlen sich nicht überlagern, sondern verschmelzen. Das Erleben des Kollapses ist präsent, dicht, unaufgespalten. Seine Qualität ist nicht, dass etwas „passiert“, sondern dass es nichts mehr gibt, das nicht dazugehört.

 

Gerade darin liegt sein erkenntnistheoretischer Wert: Im Kollaps verschwindet nicht nur die äußere Kausaltrennung – auch die epistemische Trennung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Welt, wird aufgehoben. Was bleibt, ist ein integriertes Jetzt, in dem alle Differenzen als relative Innenstruktur erscheinen.

 

Wenn man verstehen will, was Bewusstsein ist, muss man diesen Zustand nicht erklären – man muss ihn anerkennen. Denn jeder Leser dieses Textes kennt ihn: den Moment, in dem alles zugleich da ist, ohne dass man weiß, warum. Dieses Erleben ist kein Zusatz zur Theorie – es ist ihre Quelle und Grenze zugleich.

 

 

XIV. Informationsgradienten – Wie das Gehirn top-down wirkt, ohne es zu wollen

Bewusste Zustände sind nicht nur erlebbar – sie sind auch wirksam. Nicht im Sinne eines homunkularen „Ich“, das in den Körper eingreift, sondern durch ihre Position im kausalen Gesamtgefüge: Das Gehirn ist der Ort maximaler Informationsdichte. Und diese Dichte erzeugt Gradienten, entlang derer es auf andere physiologische Ebenen einwirkt.

 

Das erklärt, warum Placeboeffekte wirken. Warum Gedanken den Herzschlag beeinflussen. Warum chronischer Stress Organe schädigt – und Meditation den Blutdruck senkt. Es handelt sich dabei nicht um Wunder, sondern um kausal verständliche Rückprojektionen von einem hoch verdichteten Steuerzentrum auf Regulationskreise mit niedrigerer Komplexität.

 

Top-down-Effekte entstehen dort, wo der Gradientenunterschied groß genug ist, dass Informationen „nach unten“ diffundieren können – etwa durch das autonome Nervensystem, endokrine Signalwege oder hormonelle Kopplungen. Bewusstsein ist dabei nicht die Ursache, sondern der kontextuelle Ausdruck eines Zustands, in dem diese Gradienten existieren.

 

Der Kollaps beschreibt wo Bewusstsein entsteht. Die Gradienten zeigen, wie es auf andere Ebenen wirkt – ohne Intention, ohne Steuerung, aber wirksam. Es sind diese unsichtbaren Informationsströme, die erklären, wie ein Gedanke Muskeln spannt, ein Bild Tränen auslöst oder ein Glaube heilt.

Insofern sind top-down-Effekte nicht mystisch, sondern funktional emergent – durch die Dichte, nicht durch den Willen.

 

Was bleibt, ist die Einsicht: Bewusstsein verändert nichts – aber es ist der Ort, an dem Veränderung ihren Ausgang nehmen kann.

 

XV. Ausblick – Was eine Theorie leisten muss, wenn sie Bewusstsein erklären will

Die hier entwickelte Theorie des kausalen Kollapses liefert keine letzte Antwort – aber sie liefert eine Struktur, in der Antworten sinnvoll werden. Sie beginnt nicht bei Modellen, sondern bei Zuständen; nicht bei Abstraktionen, sondern bei der erlebten Einheit des Erlebens. Und sie führt über biologische, dynamische und erkenntnistheoretische Ebenen hinweg zu einer Position, die Bewusstsein weder auflöst noch mystifiziert.

 

Eine Theorie des Bewusstseins muss heute mehr leisten als nur Begriffsklärung oder Datenmodellierung. Sie muss:

  • das Bewusstsein als ontologischen Zustand fassen,
  • diesen Zustand biologisch und dynamisch erklären,
  • ihn in seiner erlebbaren Gestalt ernst nehmen,
  • und die Untrennbarkeit von Subjektivität und Systemzustand zeigen.

Der kausale Kollaps erfüllt all diese Bedingungen. Er ist keine Hypothese, sondern eine erkenntnistheoretisch begründbare Struktur – eine Form, in der Subjekt und System eins werden. Wer Bewusstsein verstehen will, muss dorthin schauen, wo Trennung unmöglich wird – in den Kollaps.

 

Vielleicht ist das Bewusstsein deshalb so schwer zu fassen, weil es das Einzige ist, das sich nicht von uns unterscheiden lässt. Es ist der Punkt, an dem die Welt in uns und wir in die Welt fallen – als Zustand, als Erfahrung, als Wirklichkeit.

 

Literatur

 

Tononi, Giulio (2004): An information integration theory of consciousness. BMC Neuroscience.

 

Friston, Karl (2010): The free-energy principle: a unified brain theory? Nature Reviews Neuroscience.

 

Chalmers, David (1995): Facing up to the problem of consciousness. Journal of Consciousness Studies.

 

Baars, Bernard (1988): A Cognitive Theory of Consciousness. Cambridge University Press.

 

Block, Ned (1995): On a confusion about a function of consciousness. Behavioral and Brain Sciences.

 

Nagel, Thomas (1974): What is it like to be a bat? Philosophical Review.

 

Dehaene, Stanislas (2014): Consciousness and the Brain. Viking Press.

 

Seth, Anil (2021): Being You: A New Science of Consciousness. Faber & Faber.

 

Maturana, Humberto & Varela, Francisco (1980): Autopoiesis and Cognition. Reidel.

 

Stegemann, Wolfgang (2025): Consciousness - Expanding the Model of Causal Collapse. https://doi.org/10.5281/zenodo.15351381.