Dr. Wolfgang Stegemann
Dr. Wolfgang Stegemann

Das Leib-Seele Problem für Mathematiker

Mathematiker verstehen vielleicht eher die Kategoriefehler, die gewöhnlich von Philosophen beim Leib-Seele Problem gemacht werden:

 

Dimension 1: Art der Beschreibung

  • Physis → objektive, materielle Beschreibung (z. B. Neurobiologie, Elektrophysiologie)

  • Psyche → subjektive, erlebensnahe Beschreibung (z. B. Emotion, Gedanke, Empfindung)

Dimension 2: Perspektive der Beschreibung

  • 3. Person → Außenperspektive, beobachtend (z. B. Naturwissenschaft)

  • 1. Person → Innenperspektive, erlebend (z. B. Introspektion)


Formalisierung: Das 2×2-Modell der Bezugssysteme

 

Wir stellen die vier Systeme als kartesisches Produkt dar:

 

Bezugssysteme={Physis,Psyche}×{1. Person,3. Person}

 

Das ergibt vier Kombinationen, die man z. B. als Matrix schreiben kann:

 

  3. Person (Außen) 1. Person (Innen)
Physis Neurobiologie, MRT, Physik „Ich spüre meine Muskeln“ (propriozeptiv)
Psyche Verhalten, Psychologie, Tests Erleben, Denken, Fühlen
 

Der Denkfehler (Kategoriefehler)

Was viele Philosophen (und manche Wissenschaftler) tun:

  • Sie verwechseln diese vier Systeme mit vier ontologischen Entitäten (also mit real getrennten Dingen).

  • Besonders fatal ist:

    • Physis (3. Person) wird als „das Reale“ betrachtet

    • Psyche (1. Person) wird als „das Unerklärbare“, „das Emergente“, „das Geheimnis“ usw. etikettiert

Sie versuchen dann z. B., einen Übergang zu erklären zwischen:

 

                                       Physis (3. P)→Psyche (1. P)

 

was jedoch kein kausaler Übergang, sondern ein Perspektivwechsel ist.

 

Der Denkfehler besteht also darin, die Funktionsweise innerhalb eines Systems (ICH) zwischen unterschiedlichen Bezugssystemen zu erklären – was logisch unmöglich ist.

 


 

✅ Was ist stattdessen richtig?

 

Alle vier Systeme beschreiben ein und dasselbe:


Das ICH – einmal von außen, einmal von innen; einmal als Materie, einmal als Erleben.

 

Formal gesehen:


Es gibt eine Entität, nennen wir sie I, deren Eigenschaften in vier Arten von Aussagen kodiert werden:

 

                               I = funktionale Einheit ∈ R^4

 

mit vier Koordinaten:

 

                                         I=(P3​,P1​,Ψ3​,Ψ1​)

 

wobei:

 

  • P3​: Physis, 3. Person (z. B. EEG, Hormone)

  • P1: Physis, 1. Person (z. B. Hunger, Müdigkeit)

  • Ψ3​: Psyche, 3. Person (z. B. Verhaltenstests)

  • Ψ1​: Psyche, 1. Person (z. B. Gefühle, Bewusstsein)

 

Fehlschluss:


Versuche, Kausalitäten zwischen diesen Komponenten zu postulieren (z. B. P 3 → Ψ 1  als "hard problem of consciousness​"), missverstehen, dass dies nur Koordinaten derselben Entität sind.

 

Letzten Endes führen diese Fehlschlüsse zu Religion und Esoterik.

 

 

Mathematischer Transformationsansatz

 

Wir gehen vom bereits definierten 2×2-Modell aus:

Bezugssysteme = {Physis, Psyche} × {1. Person, 3. Person}

Daraus ergeben sich vier Koordinaten eines einheitlichen Systems I:

  • P₃: Physis, 3. Person (objektive physikalische Beschreibung)
  • P₁: Physis, 1. Person (subjektive physikalische Beschreibung)
  • Ψ₃: Psyche, 3. Person (objektive psychologische Beschreibung)
  • Ψ₁: Psyche, 1. Person (subjektive Erlebensbeschreibung)

 

Transformationen zwischen den Bezugssystemen

 

Wir definieren Transformationen T als Abbildungen zwischen diesen Bezugssystemen:


1. Transformationen zwischen objektiver und subjektiver Physis

  • T₁: P₃ → P₁ (Wie werden objektive physikalische Zustände subjektiv erlebt?)
    • Beispiel: Neuronale Schmerzreize → Schmerzempfindung
    • Mathematische Eigenschaften: Nicht-injektiv, kontextabhängig
    • Philosophische Position: Phänomenaler Reduktionismus
  • T₂: P₁ → P₃ (Wie werden subjektive physikalische Empfindungen objektiv messbar?)
    • Beispiel: Subjektives Hungergefühl → Messung von Ghrelin-Spiegeln
    • Mathematische Eigenschaften: Unvollständig, näherungsweise
    • Philosophische Position: Psychophysik

2. Transformationen zwischen objektiver Physis und objektiver Psyche

  • T₃: P₃ → Ψ₃ (Wie korrelieren physikalische Zustände mit beobachtbarem Verhalten?)
    • Beispiel: Neuronale Aktivitätsmuster → Verhaltensreaktionen
    • Mathematische Eigenschaften: Komplex, nicht-linear, emergent
    • Philosophische Position: Neurobehaviorismus
  • T₄: Ψ₃ → P₃ (Wie manifestiert sich Verhalten in physikalischen Zuständen?)
    • Beispiel: Beobachtbares Verhalten → neuronale Korrelate
    • Mathematische Eigenschaften: Unterdeterminiert, multiple Realisierbarkeit
    • Philosophische Position: Funktionalismus

3. Transformationen zwischen objektiver und subjektiver Psyche

  • T₅: Ψ₃ → Ψ₁ (Wie werden beobachtbare psychologische Zustände subjektiv erlebt?)
    • Beispiel: Beobachtbare emotionale Reaktionen → subjektives Gefühlserleben
    • Mathematische Eigenschaften: Privatheit, Unvollständigkeit
    • Philosophische Position: Phänomenologie
  • T₆: Ψ₁ → Ψ₃ (Wie manifestieren sich subjektive Erlebnisse in beobachtbarem Verhalten?)
    • Beispiel: Innere Gedanken → verbale Äußerungen
    • Mathematische Eigenschaften: Expressiv, selektiv, interpretationsbedürftig
    • Philosophische Position: Interpretative Phänomenologie

4. Transformationen zwischen subjektiver Physis und subjektiver Psyche

  • T₇: P₁ → Ψ₁ (Korrelationen zwischen subjektiven physischen Empfindungen und subjektivem Erleben)
    • Beispiel: Körperliche Ermüdung und emotionale Verstimmung als parallele Beschreibungen
    • Mathematische Eigenschaften: Korrelativ, nicht kausal
    • Philosophische Position: Duale Aspekttheorie (nicht zu verwechseln mit "Embodied Cognition", die problematisch Determinante und Determinandum vermischt)
  • T₈: Ψ₁ → P₁ (Korrelationen zwischen subjektiven Erlebnissen und Körperwahrnehmung)
    • Beispiel: Parallele Beschreibung von Angstgefühl und körperlicher Anspannung
    • Mathematische Eigenschaften: Korrelativ, nicht-reduktiv
    • Philosophische Position: Psychophysischer Parallelismus

5. Diagonale Transformationen

  • T₉: P₃ → Ψ₁ (Das "hard problem of consciousness")
    • Beispiel: Neuronale Aktivität → Qualia/Bewusstsein
    • Mathematische Eigenschaften: Erklärungslücke, kategoriale Differenz
    • Philosophische Position: Explanatorische Lücken-Theorie
  • T₁₀: Ψ₁ → P₃ (Das Problem mentaler Verursachung)
    • Beispiel: Willentliche Entscheidung → neuronale Aktivität
    • Mathematische Eigenschaften: Kausal unterdeterminiert
    • Philosophische Position: Libertarischer Kompatibilismus
  • T₁₁: P₁ → Ψ₃ (Korrelationen zwischen subjektivem körperlichen Empfinden und beobachtbarem Sozialverhalten)
    • Beispiel: Korrelation von Schmerzempfindungen mit beobachtbaren Verhaltensänderungen
    • Mathematische Eigenschaften: Korrelativ, probabilistisch
    • Philosophische Position: Verhaltensanalyse (ohne die Kategorienvermischung der "verkörperten Sozialität")
  • T₁₂: Ψ₃ → P₁ (Korrelationen zwischen sozialen Signalen und subjektiver Körperwahrnehmung)
    • Beispiel: Korrelation zwischen sozialer Interaktion und subjektiven körperlichen Empfindungen
    • Mathematische Eigenschaften: Assoziativ, nicht-kausal
    • Philosophische Position: Deskriptive Phänomenologie


Mathematische Eigenschaften der Transformationen


1. Formale Charakterisierung

  • Vollständigkeit: Manche Transformationen sind prinzipiell unvollständig (z.B. T₉: P₃ → Ψ₁)
  • Injektivität/Surjektivität: Viele Transformationen sind weder injektiv noch surjektiv
  • Kontextabhängigkeit: Transformationen sind abhängig von Zustand und Geschichte des Systems I


2. Unschärferelation


Für komplementäre Beschreibungssysteme gilt eine Art "Unschärferelation":

Je genauer ein Zustand in Bezugssystem A beschrieben wird, desto ungenauer wird seine Beschreibung in Bezugssystem B.

Formal: Für die Genauigkeit Δ der Beschreibungen gilt: ΔP₃ · ΔΨ₁ ≥ k (wobei k eine Konstante ist)


3. Nicht-Kommutativität


Die Reihenfolge der Transformationen ist entscheidend: T₁ T₃ ≠ T₃ T₁


4. Emergenz


Manche Transformationen erzeugen qualitativ neue Eigenschaften: T₃(P₃) {Eigenschaften, die in P₃ nicht explizit enthalten sind}


Philosophische Implikationen


1. Neuinterpretation klassischer Positionen

  • Reduktionismus: Behauptet T₉: P₃ → Ψ₁ sei vollständig möglich
  • Dualismus: Behauptet T₉: P₃ → Ψ₁ sei prinzipiell unmöglich
  • Emergenz: Beschreibt T₃: P₃ → Ψ₃ als qualitativ neue Eigenschaftsebene
  • Funktionalismus: Fokussiert auf T₃ und T₄ als hinreichende Erklärung
  • Phänomenologie: Priorisiert Ψ₁ als eigenständigen Zugangsweg zur Realität


2. Das "hard problem of consciousness"

Das "hard problem" erscheint als Erklärungslücke in der Transformation T₉: P₃ → Ψ₁, weil:

  • Die Transformation kategoriale Grenzen überschreitet
  • Die Zieldomain (Ψ₁) private, nicht-öffentliche Eigenschaften hat
  • Die Qualia-Eigenschaften von Ψ₁ in P₃ keine strukturellen Entsprechungen haben


3. Komplementarität statt Reduktion

Die vier Bezugssysteme bieten komplementäre, nicht aufeinander reduzierbare Perspektiven auf dieselbe Realität:

  • Sie sind alle gleichwertig und notwendig für eine vollständige Beschreibung
  • Keine Perspektive kann die anderen vollständig ersetzen
  • Zusammen bilden sie ein kohärentes Gesamtbild der Entität I


Anwendungen des Transformationsmodells


1. Neurowissenschaftliche Forschung

  • Präzisierung der Forschungsfragen durch Klärung, welche Bezugssysteme untersucht werden
  • Anerkennung der prinzipiellen Grenzen bestimmter Erklärungsansprüche
  • Vermeidung kategorialer Fehler bei der Interpretation neurowissenschaftlicher Daten

2. Klinische Anwendungen

  • Klarere Unterscheidung zwischen verschiedenen Beschreibungsebenen (z.B. physiologische vs. phänomenologische)
  • Präzisere Sprache, die Kategorienverwirrung verhindert
  • Anerkennung der unterschiedlichen, nicht aufeinander reduzierbaren Beschreibungssysteme

3. Künstliche Intelligenz

  • Klärung konzeptioneller Verwirrungen in der KI-Diskussion
  • Präzise Unterscheidung zwischen funktionaler Beschreibung (Ψ₃) und phänomenalem Bewusstsein (Ψ₁)
  • Vermeidung kategorialer Fehler wie dem "extended mind"-Konzept, das fälschlicherweise externe Werkzeuge (P₃) mit mentalen Prozessen (Ψ₁/Ψ₃) gleichsetzt

Zusammenfassung


Der Transformationsansatz:

  1. Formalisiert die Beziehungen zwischen den vier Bezugssystemen
  2. Identifiziert die mathematischen Eigenschaften und Grenzen dieser Transformationen
  3. Erklärt, warum bestimmte philosophische Probleme entstehen
  4. Bietet einen Rahmen für die Integration verschiedener Forschungsansätze
  5. Vermeidet den Kategoriefehler, Perspektiven mit ontologischen Entitäten zu verwechseln

Indem wir I als einheitliche Entität mit vier komplementären Beschreibungssystemen betrachten und die Transformationen zwischen diesen Systemen analysieren, können wir das Leib-Seele-Problem neu konzeptualisieren – nicht als metaphysisches Rätsel, sondern als Konsequenz der Komplementarität unterschiedlicher Beschreibungssysteme derselben Realität.