Mathematiker verstehen vielleicht eher die Kategoriefehler, die gewöhnlich von Philosophen beim Leib-Seele Problem gemacht werden:
Dimension 1: Art der Beschreibung
-
Physis → objektive, materielle Beschreibung (z. B. Neurobiologie, Elektrophysiologie)
-
Psyche → subjektive, erlebensnahe Beschreibung (z. B. Emotion, Gedanke, Empfindung)
Dimension 2: Perspektive der Beschreibung
-
3. Person → Außenperspektive, beobachtend (z. B. Naturwissenschaft)
-
1. Person → Innenperspektive, erlebend (z. B. Introspektion)
Formalisierung: Das 2×2-Modell der Bezugssysteme
Wir stellen die vier Systeme als kartesisches Produkt dar:
Bezugssysteme={Physis,Psyche}×{1. Person,3. Person}
Das ergibt vier Kombinationen, die man z. B. als Matrix schreiben kann:
|
3. Person (Außen) |
1. Person (Innen) |
Physis |
Neurobiologie, MRT, Physik |
„Ich spüre meine Muskeln“ (propriozeptiv) |
Psyche |
Verhalten, Psychologie, Tests |
Erleben, Denken, Fühlen |
Der Denkfehler (Kategoriefehler)
Was viele Philosophen (und manche Wissenschaftler) tun:
Sie versuchen dann z. B., einen Übergang zu erklären zwischen:
Physis (3. P)→Psyche (1. P)
was jedoch kein kausaler Übergang, sondern ein Perspektivwechsel ist.
Der Denkfehler besteht also darin, die Funktionsweise innerhalb eines Systems (ICH) zwischen unterschiedlichen Bezugssystemen zu erklären – was logisch unmöglich
ist.
✅ Was ist stattdessen richtig?
Alle vier Systeme beschreiben ein und dasselbe:
Das ICH – einmal von außen, einmal von innen; einmal als Materie, einmal als Erleben.
Formal gesehen:
Es gibt eine Entität, nennen wir sie I, deren Eigenschaften in vier Arten von Aussagen kodiert werden:
I = funktionale Einheit ∈ R^4
mit vier Koordinaten:
I=(P3,P1,Ψ3,Ψ1)
wobei:
-
P3: Physis, 3. Person (z. B. EEG, Hormone)
-
P1: Physis, 1. Person (z. B. Hunger, Müdigkeit)
-
Ψ3: Psyche, 3. Person (z. B. Verhaltenstests)
-
Ψ1: Psyche, 1. Person (z. B. Gefühle, Bewusstsein)
Fehlschluss:
Versuche, Kausalitäten zwischen diesen Komponenten zu postulieren (z. B. P 3 → Ψ 1 als "hard problem of consciousness"), missverstehen, dass dies nur Koordinaten
derselben Entität sind.
Letzten Endes führen diese Fehlschlüsse zu Religion und Esoterik.
Mathematischer Transformationsansatz
Wir gehen vom bereits definierten 2×2-Modell aus:
Bezugssysteme = {Physis, Psyche} × {1. Person, 3. Person}
Daraus ergeben sich vier Koordinaten eines einheitlichen Systems I:
- P₃: Physis, 3. Person (objektive physikalische Beschreibung)
- P₁: Physis, 1. Person (subjektive physikalische Beschreibung)
- Ψ₃: Psyche, 3. Person (objektive psychologische Beschreibung)
- Ψ₁: Psyche, 1. Person (subjektive Erlebensbeschreibung)
Transformationen zwischen den Bezugssystemen
Wir definieren Transformationen T als Abbildungen zwischen diesen
Bezugssystemen:
1. Transformationen zwischen objektiver und subjektiver Physis
- T₁: P₃ → P₁ (Wie werden objektive physikalische Zustände subjektiv erlebt?)
- Beispiel: Neuronale Schmerzreize → Schmerzempfindung
- Mathematische Eigenschaften: Nicht-injektiv, kontextabhängig
- Philosophische Position: Phänomenaler Reduktionismus
- T₂: P₁ → P₃ (Wie werden subjektive physikalische Empfindungen objektiv messbar?)
- Beispiel: Subjektives Hungergefühl → Messung von Ghrelin-Spiegeln
- Mathematische Eigenschaften: Unvollständig, näherungsweise
- Philosophische Position: Psychophysik
2. Transformationen zwischen objektiver Physis und objektiver
Psyche
- T₃: P₃ → Ψ₃ (Wie korrelieren physikalische Zustände mit beobachtbarem Verhalten?)
- Beispiel: Neuronale Aktivitätsmuster → Verhaltensreaktionen
- Mathematische Eigenschaften: Komplex, nicht-linear, emergent
- Philosophische Position: Neurobehaviorismus
- T₄: Ψ₃ → P₃ (Wie manifestiert sich Verhalten in physikalischen Zuständen?)
- Beispiel: Beobachtbares Verhalten → neuronale Korrelate
- Mathematische Eigenschaften: Unterdeterminiert, multiple
Realisierbarkeit
- Philosophische Position: Funktionalismus
3. Transformationen zwischen objektiver und subjektiver
Psyche
- T₅: Ψ₃ → Ψ₁ (Wie werden beobachtbare psychologische Zustände subjektiv erlebt?)
- Beispiel: Beobachtbare emotionale Reaktionen → subjektives
Gefühlserleben
- Mathematische Eigenschaften: Privatheit, Unvollständigkeit
- Philosophische Position: Phänomenologie
- T₆: Ψ₁ → Ψ₃ (Wie manifestieren sich subjektive Erlebnisse in beobachtbarem Verhalten?)
- Beispiel: Innere Gedanken → verbale Äußerungen
- Mathematische Eigenschaften: Expressiv, selektiv,
interpretationsbedürftig
- Philosophische Position: Interpretative Phänomenologie
4. Transformationen zwischen subjektiver Physis und subjektiver
Psyche
- T₇: P₁ → Ψ₁ (Korrelationen zwischen subjektiven physischen Empfindungen und subjektivem Erleben)
- Beispiel: Körperliche Ermüdung und emotionale Verstimmung als parallele
Beschreibungen
- Mathematische Eigenschaften: Korrelativ, nicht kausal
- Philosophische Position: Duale Aspekttheorie (nicht zu verwechseln mit "Embodied
Cognition", die problematisch Determinante und Determinandum vermischt)
- T₈: Ψ₁ → P₁ (Korrelationen zwischen subjektiven Erlebnissen und Körperwahrnehmung)
- Beispiel: Parallele Beschreibung von Angstgefühl und körperlicher
Anspannung
- Mathematische Eigenschaften: Korrelativ, nicht-reduktiv
- Philosophische Position: Psychophysischer Parallelismus
5. Diagonale Transformationen
- T₉: P₃ → Ψ₁ (Das "hard problem of consciousness")
- Beispiel: Neuronale Aktivität → Qualia/Bewusstsein
- Mathematische Eigenschaften: Erklärungslücke, kategoriale Differenz
- Philosophische Position: Explanatorische Lücken-Theorie
- T₁₀: Ψ₁ → P₃ (Das Problem mentaler Verursachung)
- Beispiel: Willentliche Entscheidung → neuronale Aktivität
- Mathematische Eigenschaften: Kausal unterdeterminiert
- Philosophische Position: Libertarischer Kompatibilismus
- T₁₁: P₁ → Ψ₃ (Korrelationen zwischen subjektivem körperlichen Empfinden und beobachtbarem Sozialverhalten)
- Beispiel: Korrelation von Schmerzempfindungen mit beobachtbaren
Verhaltensänderungen
- Mathematische Eigenschaften: Korrelativ, probabilistisch
- Philosophische Position: Verhaltensanalyse (ohne die Kategorienvermischung der
"verkörperten Sozialität")
- T₁₂: Ψ₃ → P₁ (Korrelationen zwischen sozialen Signalen und subjektiver Körperwahrnehmung)
- Beispiel: Korrelation zwischen sozialer Interaktion und subjektiven körperlichen
Empfindungen
- Mathematische Eigenschaften: Assoziativ, nicht-kausal
- Philosophische Position: Deskriptive Phänomenologie
Mathematische Eigenschaften der Transformationen
1. Formale Charakterisierung
- Vollständigkeit: Manche Transformationen sind prinzipiell unvollständig (z.B. T₉: P₃ → Ψ₁)
- Injektivität/Surjektivität: Viele Transformationen sind weder injektiv noch surjektiv
- Kontextabhängigkeit: Transformationen sind abhängig von Zustand und Geschichte des Systems I
2. Unschärferelation
Für komplementäre Beschreibungssysteme gilt eine Art "Unschärferelation":
Je genauer ein Zustand in Bezugssystem A beschrieben wird, desto ungenauer wird seine
Beschreibung in Bezugssystem B.
Formal: Für die Genauigkeit Δ der Beschreibungen gilt: ΔP₃ · ΔΨ₁ ≥ k (wobei k eine
Konstante ist)
3. Nicht-Kommutativität
Die Reihenfolge der Transformationen ist entscheidend: T₁ ∘ T₃ ≠ T₃ ∘ T₁
4. Emergenz
Manche Transformationen erzeugen qualitativ neue Eigenschaften: T₃(P₃) ⊃ {Eigenschaften, die in P₃ nicht
explizit enthalten sind}
Philosophische Implikationen
1. Neuinterpretation klassischer Positionen
- Reduktionismus: Behauptet T₉: P₃ → Ψ₁ sei vollständig möglich
- Dualismus: Behauptet T₉: P₃ → Ψ₁ sei prinzipiell unmöglich
- Emergenz: Beschreibt T₃: P₃ → Ψ₃ als qualitativ neue Eigenschaftsebene
- Funktionalismus: Fokussiert auf T₃ und T₄ als hinreichende Erklärung
- Phänomenologie: Priorisiert Ψ₁ als eigenständigen Zugangsweg zur Realität
2. Das "hard problem of consciousness"
Das "hard problem" erscheint als Erklärungslücke in der Transformation T₉: P₃ → Ψ₁,
weil:
- Die Transformation kategoriale Grenzen überschreitet
- Die Zieldomain (Ψ₁) private, nicht-öffentliche Eigenschaften hat
- Die Qualia-Eigenschaften von Ψ₁ in P₃ keine strukturellen Entsprechungen
haben
3. Komplementarität statt Reduktion
Die vier Bezugssysteme bieten komplementäre, nicht aufeinander reduzierbare
Perspektiven auf dieselbe Realität:
- Sie sind alle gleichwertig und notwendig für eine vollständige
Beschreibung
- Keine Perspektive kann die anderen vollständig ersetzen
- Zusammen bilden sie ein kohärentes Gesamtbild der Entität I
Anwendungen des Transformationsmodells
1. Neurowissenschaftliche Forschung
- Präzisierung der Forschungsfragen durch Klärung, welche Bezugssysteme untersucht
werden
- Anerkennung der prinzipiellen Grenzen bestimmter
Erklärungsansprüche
- Vermeidung kategorialer Fehler bei der Interpretation neurowissenschaftlicher
Daten
2. Klinische Anwendungen
- Klarere Unterscheidung zwischen verschiedenen Beschreibungsebenen (z.B. physiologische
vs. phänomenologische)
- Präzisere Sprache, die Kategorienverwirrung verhindert
- Anerkennung der unterschiedlichen, nicht aufeinander reduzierbaren
Beschreibungssysteme
3. Künstliche Intelligenz
- Klärung konzeptioneller Verwirrungen in der KI-Diskussion
- Präzise Unterscheidung zwischen funktionaler Beschreibung (Ψ₃) und phänomenalem
Bewusstsein (Ψ₁)
- Vermeidung kategorialer Fehler wie dem "extended mind"-Konzept, das fälschlicherweise
externe Werkzeuge (P₃) mit mentalen Prozessen (Ψ₁/Ψ₃) gleichsetzt
Zusammenfassung
Der Transformationsansatz:
- Formalisiert die Beziehungen zwischen den vier Bezugssystemen
- Identifiziert die mathematischen Eigenschaften und Grenzen dieser
Transformationen
- Erklärt, warum bestimmte philosophische Probleme entstehen
- Bietet einen Rahmen für die Integration verschiedener
Forschungsansätze
- Vermeidet den Kategoriefehler, Perspektiven mit ontologischen Entitäten zu
verwechseln
Indem wir I als einheitliche Entität mit vier komplementären Beschreibungssystemen
betrachten und die Transformationen zwischen diesen Systemen analysieren, können wir das Leib-Seele-Problem neu konzeptualisieren – nicht als metaphysisches Rätsel, sondern als Konsequenz der
Komplementarität unterschiedlicher Beschreibungssysteme derselben Realität.