Dr. Wolfgang Stegemann
Dr. Wolfgang Stegemann

Zur Kritik des Strukturenrealismus

Abstract

Dieser Artikel entwickelt eine fundamentale Kritik des Strukturenrealismus (SR) in seinen Varianten epistemisch (ESR) und ontologisch (OSR). Drei zentrale Probleme werden aufgezeigt: (1) die tautologische Grundstruktur der SR-Argumentation, (2) die Erklärungslücken bei Symmetriebrüchen und Emergenzphänomenen sowie (3) die systematische Unvereinbarkeit mit biologischen Systemen. Der SR scheitert sowohl an internen Widersprüchen als auch an der empirischen Realität komplexer Systeme. Als Alternative wird ein skalenabhängiger Realismus vorgeschlagen, der physikalische und biologische Phänomene durch eine Hierarchie ontologischer Ebenen erklärt und Symmetriebrüche als Verbindungsprinzip nutzt.

 

1. Einleitung

Der Strukturenrealismus beansprucht, zentrale Probleme des wissenschaftlichen Realismus – etwa Theorienabfolge oder Quanteninterpretation – durch Reduktion auf strukturelle Beziehungen zu lösen. Eine kritische Analyse offenbart jedoch fundamentale Defizite auf logischer, physikalischer und biologischer Ebene. Diese führen zur Ablehnung des SR und zur Entwicklung eines skalenabhängigen Realismus, der Emergenz und Skalenhierarchien systematisch integriert.

 

2. Logisch-konzeptionelle Grundprobleme

2.1 Selbstwiderspruch des epistemischen SR

Der epistemische Strukturenrealismus (ESR) behauptet, dass nur Strukturen erkennbar sind, nicht jedoch die „Dinge an sich“. Diese Aussage selbst stellt jedoch eine strukturelle Erkenntnis dar, was zu einem klassischen Zirkelschluss führt. Um zwischen erkennbaren Strukturen und unerkennbaren Entitäten zu unterscheiden, müsste der ESR bereits über nicht-strukturelles Wissen verfügen, was seiner Grundprämisse widerspricht (Chakravartty 2007).

 

2.2 Das Newman-Problem: Strukturelle Beliebigkeit

Newmans Kritik (1928) zeigt, dass strukturelle Beschreibungen prinzipiell mehrdeutig sind: Jede Menge mit passender Kardinalität lässt sich in eine mathematische Struktur einbetten. Der SR kann nicht begründen, warum seine Strukturen die „wahre“ Realität abbilden. Dies untergräbt seinen Anspruch auf ontologische Aussagekraft und offenbart eine fundamentale Beliebigkeit (Psillos 2001).

 

2.3 Versteckte Metaphysik

Trotz des Anspruchs metaphysischer Neutralität setzt der SR implizit absolute Strukturbegriffe und eine klare Trennung von Struktur und Entität voraus. Diese Annahmen sind weder begründet noch mit der Praxis empirischer Wissenschaften vereinbar. So argumentiert Chakravartty (2007), dass der SR letztlich selbst metaphysische Prämissen benötigt, die er zu vermeiden sucht.

 

3. Physikalische Kritik

3.1 Quantenmechanik: Tautologisches Zirkelargument

Der ontologische Strukturenrealismus (OSR) beruft sich auf die Quantenmechanik als Beleg für eine rein strukturelle Realität. Diese Argumentation erweist sich jedoch als zirkulär: Die Interpretation der Quantenmechanik als Beweis für Strukturen setzt bereits strukturalistische Vorannahmen voraus (French 2014). Damit reproduziert der OSR lediglich seine eigenen Prämissen, statt empirische Evidenz zu liefern.

 

3.2 Symmetriebrüche und Skalenabhängigkeit

In der Festkörperphysik entstehen durch Symmetriebrüche neue Eigenschaften, wie Supraleitung oder Magnetismus. Diese Emergenz ist skalenabhängig: Quantenfelder (Skala 10⁻¹⁵ m) formen makroskopische Entitäten (Skala 10⁻³ m), die sich nicht auf ihre mikroskopischen Bestandteile reduzieren lassen. Der SR kann diesen Übergang nicht erklären, da er Strukturen als statisch begreift (Anderson 1972).

 

3.3 Dekohärenz: Vom Quanten- zum Klassischen

Dekohärenzprozesse zeigen, wie Quantensysteme durch Wechselwirkung mit ihrer Umgebung klassisches Verhalten entwickeln. Der SR reduziert dies auf strukturelle Relationen, ignoriert jedoch die phänomenologische Eigenständigkeit makroskopischer Entitäten. Wie Zurek (2003) betont, erfordert die Lokalisierung von Quantenobjekten zusätzliche Erklärungen, die der SR nicht bieten kann.

 

4. Biologische Kritik

4.1 Autopoiesis: Selbstorganisierende Einheiten

Lebende Systeme, etwa Zellen, erhalten ihre Grenzen aktiv aufrecht (Maturana & Varela 1980). Dies erfordert diskrete Entitäten mit kausaler Eigenständigkeit – ein Widerspruch zum SR, der Organismen als reine Strukturen definiert. Die Beschreibung von Autokatalyse setzt bereits voraus, dass der Organismus eine eigenständige Entität ist.

 

4.2 Gerichtete Kausalität

Biologische Prozesse wie Nahrungsaufnahme oder zielgerichtete Handlungen setzen handelnde Akteure voraus. Der SR scheitert daran, Kausalität aus rein relationalen Strukturen abzuleiten. Wie Dupré (1993) argumentiert, erfordert gerichtete Kausalität eine ontologische Anerkennung von Entitäten, die der SR leugnet.

 

4.3 Radikale Emergenz des Lebens

Die Entstehung des Lebens demonstriert Eigenschaften wie Selbsterhaltung und Reproduktion, die nicht auf physikalisch-chemische Strukturen reduzierbar sind. Der SR steht hier vor einem Dilemma: Entweder akzeptiert er Emergenz und verwirft seine Grundthese, oder er leugnet sie und widerspricht empirischen Befunden.

 

5. Gescheiterte Rettungsversuche

Hybridmodelle wie die Kombination von Strukturen und Entitäten führen in einen ontologischen Dualismus, der das Newman-Problem nicht löst (Ladyman & Ross 2007). Pragmatische Varianten des SR schwächen ontologische Ansprüche ab, ignorieren aber weiterhin die Skalenabhängigkeit und biologische Komplexität (Worrall 1989).

 

6. Alternative: Skalenabhängiger Realismus

6.1 Ontologische Ebenen

Der skalenabhängige Realismus unterscheidet drei Ebenen: (1) die Quantenebene (Felder und Symmetrien, Skala 10⁻¹⁵ m), (2) die makroskopische Ebene (klassische Entitäten, Skala 10⁻³ m) und (3) die biologische Ebene (selbstorganisierende Systeme, Skala 10⁻⁶ m). Jede Ebene besitzt eigenständige Gesetze und Entitäten (Laughlin 2005).

 

6.2 Epistemische Hierarchie

Wissenschaftliche Theorien – von der Quantenphysik bis zur Biologie – sind komplementär, nicht reduktionistisch. Strukturen dienen hier als Werkzeuge skalenabhängiger Beschreibung, ohne ontologische Vorherrschaft zu beanspruchen.

 

6.3 Symmetriebrüche als Brücken

Symmetriebrüche, etwa spontane Magnetisierung, erklären Übergänge zwischen Skalen und die Entstehung neuer Ontologien. Diese Mechanismen verbinden verschiedene Beschreibungsebenen und vermeiden Reduktionismus (Kosso 2000).

 

7. Fazit

Der SR scheitert an drei zentralen Herausforderungen: (1) logischen Zirkelschlüssen, (2) physikalischer Emergenz und (3) biologischer Komplexität. Der skalenabhängige Realismus bietet einen Ausweg, indem er ontologische Ebenen anerkennt, Symmetriebrüche als Emergenzmechanismen nutzt und komplementäre statt reduktionistische Erklärungen ermöglicht. Dieser Ansatz vereint physikalische und biologische Phänomene in einem kohärenten Rahmen.

 

Literaturverzeichnis

Anderson, P.W. (1972). More is Different. Science, 177(4047), 393–396.

 

Brading, K., & Landry, E. (2006). Scientific Structuralism: Presentation and Representation. Philosophy of Science, 73(5), 571–581.

 

Chakravartty, A. (2007). A Metaphysics for Scientific Realism. Cambridge University Press.

 

Dupré, J. (1993). The Disorder of Things: Metaphysical Foundations of the Disunity of Science. Harvard University Press.

 

French, S. (2014). The Structure of the World: Metaphysics and Representation. Oxford University Press.

 

Kosso, P. (2000). The Empirical Status of Symmetries in Physics. British Journal for the Philosophy of Science, 51(1), 81–98.

 

Ladyman, J., & Ross, D. (2007). Every Thing Must Go: Metaphysics Naturalized. Oxford University Press.

 

Laughlin, R.B. (2005). A Different Universe: Reinventing Physics from the Bottom Down. Basic Books.

 

Maturana, H., & Varela, F. (1980). Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living. Reidel.

 

Newman, M.H.A. (1928). Mr. Russell’s Causal Theory of Perception. Mind, 37(146), 137–148.

 

Psillos, S. (2001). Is Structural Realism Possible? Philosophy of Science, 68(S3), S13–S24.

 

van Fraassen, B. (2006). Structure: Its Shadow and Substance. Erkenntnis, 64(2), 275–297.

 

Worrall, J. (1989). Structural Realism: The Best of Both Worlds? Dialectica, 43(1-2), 99–124.

 

Zurek, W.H. (2003). Decoherence and the Transition from Quantum to Classical. arXiv:quant-ph /0306072.