Dr. Wolfgang Stegemann
Dr. Wolfgang Stegemann

Leben als Agent

Teil 1: Agentenschaft durch den kausalen Kern

 

 

1.1. Der Kausale Kern: Entstehung und Bedeutung

 

Der kausale Kern ist ein zentrales Konzept, das beschreibt, wie lebende Systeme eine Art dynamisches Zentrum der Kontrolle und Anpassung entwickeln. Doch um seine Bedeutung vollständig zu erfassen, ist es entscheidend, den Mechanismus seiner Entstehung zu verstehen: Der kausale Kern entsteht durch Strukturverschiebungen innerhalb des lebenden Systems, die im ständigen Austausch mit der Umwelt stattfinden.

 

Diese Strukturverschiebungen führen zu einem Zustand, der als strukturelles Maximum oder Maximale Strukturdichte beschrieben werden kann. Dies bedeutet, dass der kausale Kern ein Bereich ist, in dem eine besonders hohe Informationsdichte erreicht wird. Diese hohe Informationsdichte erhöht die Reaktionswahrscheinlichkeit des Systems auf externe Reize. Anders gesagt: Der kausale Kern ist der Ort, an dem die Effizienz der Reaktion auf Umweltveränderungen maximiert wird, weil hier die notwendigen strukturellen und informationellen Ressourcen konzentriert vorliegen.

 

 

 1.2. Strukturverschiebungen und Gradientenbildung

 

Die ständigen Strukturverschiebungen im lebenden System sind kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis dynamischer Wechselwirkungen mit der Umwelt. Sie führen zu einer Reorganisation des Systems, die darauf abzielt, bestimmte strukturelle Maxima zu erreichen. Diese Maxima schaffen Gradienten – Richtungsunterschiede innerhalb der Systemstruktur –, die als treibende Kräfte fungieren. Diese Gradienten sind nicht nur passive Resultate der Strukturverschiebung, sondern haben eine kausale Kraft, die dem System eine Richtung verleiht und es aktiv in die Lage versetzt, auf die Umwelt zu reagieren und in ihr zu agieren.

 

Durch diese Gradienten entsteht ein kontinuierlicher Fluss von Energie und Information, der die Grundlage für die Handlungsfähigkeit des Systems bildet. Das System selbst wird somit zu einem aktiven Agenten, der seine Umgebung beeinflusst und sich selbst verändert. Der kausale Kern ist das Zentrum, aus dem heraus diese Prozesse koordiniert und vermittelt werden, und ermöglicht so eine zielgerichtete Anpassung des Organismus an wechselnde Bedingungen.

 

 

 1.3. Agierende Attraktoren und ihre Rolle

 

Wie bereits erwähnt, sollten die Attraktoren in einem dynamischen System als agierende Entitäten verstanden werden. In diesem Zusammenhang ist der kausale Kern ebenfalls eng mit den agierenden Attraktoren verbunden. Diese Attraktoren sind nicht statisch, sondern verändern sich aktiv entsprechend den Strukturverschiebungen und den daraus resultierenden Gradienten. Sie sind maßgeblich daran beteiligt, dass der Organismus in einen Zustand übergeht, in dem die Reaktionsfähigkeit maximiert wird, und sie arbeiten eng mit dem kausalen Kern zusammen, um die Selbstorganisation und die Systemanpassung zu ermöglichen.

 

 

 1.4. Maximale Reaktionswahrscheinlichkeit und Agentenschaft

 

Durch die hohe Strukturdichte und Informationsverfügbarkeit im kausalen Kern wird eine maximale Reaktionswahrscheinlichkeit erreicht. Dies bedeutet, dass das System besonders effizient auf Umweltveränderungen reagieren kann, was ihm eine ausgeprägte Agentenschaft verleiht. Diese Agentenschaft manifestiert sich durch das aktive Handeln des Systems in seiner Umwelt, das sowohl auf interne Ziele (wie das Aufrechterhalten eines dynamischen Gleichgewichts) als auch auf externe Herausforderungen ausgerichtet ist.
Diese Effizienz der Reaktion ist nicht nur ein Merkmal von Überleben und Anpassung, sondern auch ein Ausdruck des evolutionären Potenzials des Systems. Der kausale Kern bildet also das Zentrum einer intelligenten und effektiven Dynamik, die es dem Organismus ermöglicht, mehr als nur ein passives Objekt von evolutionären Prozessen zu sein. Vielmehr wird der Organismus durch die Bildung dieses Kerns selbst zu einem aktiven Gestalter seiner Evolution und der Umwelt, in der er lebt.

 


 Teil 2: Die Art der Bewegung als Bayes’sche Dynamik

 

 2.1. Die Grundprinzipien der Bayes’schen Bewegung


Um die Dynamik des Lebens und die Bewegungen von Organismen besser zu verstehen, ist es hilfreich, auf die mathematischen Prinzipien der Bayes'schen Wahrscheinlichkeit zurückzugreifen. Ein lebendes System agiert selten vollkommen deterministisch, sondern ist einem fortwährenden Prozess von Wahrnehmung und Anpassung unterworfen, der stark von Unsicherheiten geprägt ist. Der Begriff der Bayes’schen Bewegung beschreibt die Art und Weise, wie Organismen Wahrscheinlichkeiten darüber, was in der Umwelt geschieht, ständig neu bewerten und auf dieser Basis Entscheidungen treffen.
Bayes’sche Bewegung beschreibt, wie ein Organismus fortlaufend hypothetische Modelle seiner Umwelt erstellt und diese Modelle im Lichte neuer Informationen aus der Umwelt ständig aktualisiert. Es handelt sich dabei um einen zyklischen Prozess von Hypothesenbildung, Testen durch Aktion, und Rückmeldung, die zur Verbesserung zukünftiger Vorhersagen führt. Dies bedeutet, dass Organismen nicht deterministisch von einem Zustand in einen anderen übergehen, sondern sich vielmehr durch exploratives Handeln in einer Umgebung bewegen, in der sie Hypothesen ständig verwerfen oder bestätigen.


Dieser Prozess des Versuchs und Irrtums mit Rückkopplung ist entscheidend für die Anpassungsfähigkeit lebender Systeme. Ein Organismus kann durch seine Bewegungen in der Welt Informationen sammeln, die ihm dabei helfen, besser auf Veränderungen zu reagieren. Diese Art der Bewegung, die auf Wahrscheinlichkeitsverteilungen basiert, macht lebende Systeme besonders robust gegenüber Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit in ihrer Umwelt. Bayes’sche Aktualisierung wird so zu einem fundamentalen Prinzip der Bewegung und der Handlungssteuerung.

 

 

 2.2. Vergleich zu Fristons "Free Energy Principle"


Ein einflussreicher Ansatz, der das Prinzip der Unsicherheitsminimierung auf biologische Systeme anwendet, ist Karl Fristons "Free Energy Principle". Friston postuliert, dass biologische Systeme versuchen, die freie Energie zu minimieren, die als Maß für die Differenz zwischen ihrer internen Modellvorstellung der Welt und den tatsächlichen sensorischen Inputs gesehen wird. In diesem Ansatz wird der Organismus als eine Art probabilistisches Modell betrachtet, das ständig seine eigenen Vorhersagen mit den tatsächlichen sensorischen Daten abgleicht, um Unsicherheiten zu minimieren.


Jedoch hat das Free Energy Principle Schwächen, wenn es darum geht, das aktive Wesen des Lebens zu erklären. Fristons Modell reduziert das Verhalten lebender Organismen primär auf die Minimierung von Unsicherheit, was die Vorstellung stützt, dass Organismen bestrebt sind, stabile Zustände zu erreichen. Doch lebende Systeme sind weit dynamischer und proaktiver als das. Sie versuchen nicht nur Unsicherheit zu minimieren, sondern erschaffen aktiv neue Möglichkeiten und suchen nach Gelegenheiten, ihre Umgebung zu gestalten. Der kausale Kern ist hier eine wesentliche Ergänzung, da er beschreibt, wie der Organismus nicht nur passiv seine Unsicherheit minimiert, sondern aktiv Strukturen verschiebt und neue Formen der Ordnung generiert, um ein dynamisches Gleichgewicht zu wahren.

 

 

 2.3. Bewegung als strukturierte Exploration


Eine zentrale Vorstellung der Bayes’schen Bewegung ist die Idee der strukturierten Exploration. Ein Organismus handelt nicht zufällig, sondern nutzt seine internen Gradienten – erzeugt durch den kausalen Kern –, um die wahrscheinlichsten und vorteilhaftesten Bereiche der Umwelt zu erkunden. Das bedeutet, dass die Bewegung nicht blind ist, sondern auf einer internen Wahrscheinlichkeitsbewertung basiert, die die aktuelle Umwelt sowie die interne Struktur des Organismus berücksichtigt.


Der kausale Kern spielt hier eine entscheidende Rolle, da er die Strukturierung und Gewichtung dieser Wahrscheinlichkeiten übernimmt. Er agiert als eine Art interner Entscheidungsgenerator, der das System durch explorative Bewegungen in Richtungen führt, die für die Selbsterhaltung und Entwicklung des Systems förderlich sind. Der Prozess könnte als eine Kombination aus internen Impulsen und externen Informationen verstanden werden, bei dem der Organismus beständig seine eigene Struktur an die Gegebenheiten der Umwelt anpasst.


Dieser Prozess wird in vielen Bereichen der Natur deutlich sichtbar. Zum Beispiel zeigt die Wurzelbewegung einer Pflanze eine Form der Bayes’schen Bewegung: Die Wurzeln folgen Wasserkonzentrationen, indem sie ihre Bewegung kontinuierlich anpassen, basierend auf mikroklimatischen Gradienten und Bodenbedingungen. Diese Bewegung ist nicht rein deterministisch, sondern probabilistisch organisiert, mit dem Ziel, Ressourcen so effizient wie möglich zu finden.

 

 

 2.4. Anwendung auf die Entwicklung von Wahrnehmung und Handlung


Das Konzept der Bayes’schen Bewegung lässt sich auch auf die Entwicklung von Wahrnehmung und Handlung anwenden. Die Fähigkeit, Hypothesen über die Umwelt zu formulieren und diese durch Handeln zu testen, bildet eine Art Basis für die Entstehung von Wahrnehmungsfähigkeiten. Wahrnehmung ist dabei nicht nur eine passive Abbildung der Realität, sondern ein aktiver Prozess, bei dem der Organismus Vorhersagen generiert und diese mit sensorischen Inputs abgleicht.


Dieser Vorgang wird oft als aktive Inferenz beschrieben, bei der Organismen ständig Hypothesen darüber aufstellen, was sie erwarten zu sehen, zu hören oder zu fühlen. Wenn der kausale Kern als das dynamische Zentrum betrachtet wird, dann ist er es, der Vorhersagen basierend auf der internen Struktur des Systems generiert und die sensorischen Inputs in diesen Kontext stellt. Der kausale Kern ist derjenige, der durch Bewegungen – sei es mikroskopische strukturelle Veränderungen oder makroskopische Bewegungen durch den Raum – Hypothesen überprüft und anpasst.


Ein interessantes Beispiel für eine solche strukturelle Exploration lässt sich bei Tieren finden, insbesondere bei Raubtieren. Raubtiere verfolgen ihre Beute oft durch ein Wechselspiel von Erkundung und Jagdverhalten, wobei sie ihre Bewegung und Strategie kontinuierlich anpassen, basierend auf dem Verhalten der Beute. Diese Form der Entscheidung basiert nicht einfach auf fest verdrahteten Reflexen, sondern auf einer Bayes’schen Einschätzung der besten Strategie – ein dynamisches Gleichgewicht, das durch die Vorhersagen und die Rückmeldungen aus der Umwelt entsteht.

 

 

 2.5. Der kausale Kern und die Generierung von Handlungsfähigkeit


Eine der wichtigsten Funktionen des kausalen Kerns im Kontext der Bayes’schen Bewegung ist die Generierung von Handlungsfähigkeit durch interne Gradienten. Diese Gradienten stellen Differenzen innerhalb der inneren Struktur des Organismus dar, die sich aus den strukturellen Verschiebungen im Austausch mit der Umwelt ergeben. Sie können als eine Art interne "Landkarte" betrachtet werden, die dem Organismus anzeigt, in welche Richtung Bewegung oder strukturelle Veränderung sinnvoll ist.


Die Handlungskraft eines Organismus entsteht dabei nicht durch ein externes Kommando oder durch ein festes Programm, sondern durch die interne Dynamik, die durch den kausalen Kern aufrechterhalten wird. Dies führt dazu, dass die Bewegungen des Organismus immer eine Reaktion auf innere und äußere Bedingungen sind, die im Rahmen eines probabilistischen Entscheidungsprozesses bewertet werden. 


Der kausale Kern bestimmt, welche Bewegung am besten geeignet ist, um den Zustand des Organismus zu optimieren. Es geht hier nicht darum, Unsicherheit zu minimieren, sondern eine Form von kohärenter Dynamik zu erzeugen, in der der Organismus durch kontinuierliche Anpassung seiner eigenen Struktur in einem dynamischen Gleichgewicht bleibt.

 


 Teil 3: Kritik am Neodarwinismus: Die Rolle von Variation und Kausalität

 

 3.1. Der Neodarwinismus und seine Annahme der Zufälligkeit


Der Neodarwinismus bildet die Grundlage der modernen Evolutionsbiologie und kombiniert die klassische Evolutionstheorie von Charles Darwin mit den Erkenntnissen der Genetik. Ein zentrales Element dieser Theorie ist die Vorstellung, dass Variation innerhalb von Populationen hauptsächlich durch zufällige Mutationen entsteht, und dass der Prozess der natürlichen Selektion dann diejenigen Varianten bevorzugt, die am besten an die Umweltbedingungen angepasst sind. Diese zufällige Variation wird als das Rohmaterial der Evolution betrachtet, das erst durch die natürliche Selektion eine Richtung erhält.


Diese Perspektive führt zu einer stark deterministischen Auffassung von Evolution, in der der Zufall die Quelle der Vielfalt und die Selektion der Mechanismus ist, der Ordnung und Anpassung bringt. Doch diese Interpretation wirft grundlegende Fragen auf: Kann Zufall allein die bemerkenswerte strukturelle Kohärenz und Zielgerichtetheit lebender Systeme erklären? Und wenn Variation nur zufällig wäre, wie lässt sich dann die konsistente Entwicklung von hochstrukturierten Merkmalen und Funktionen in Organismen verstehen?

 

 

 3.2. Kausalität und Selbstorganisation als Ergänzung zur Selektion


Ein Ansatz, um die Unzulänglichkeiten des Neodarwinismus zu adressieren, besteht darin, die Bedeutung von Kausalität und Selbstorganisation in der Entstehung biologischer Variation und Komplexität zu untersuchen. Lebende Systeme sind keine passiven Subjekte, die einfach auf externe Bedingungen reagieren, sondern aktive Agenten, die in ständiger Interaktion mit ihrer Umwelt stehen. Der kausale Kern stellt in diesem Zusammenhang ein dynamisches Zentrum dar, das aktiv auf Umweltveränderungen reagiert und selbst neue Strukturen und Variation erzeugt.


Durch den kausalen Kern werden strukturverdichtete Maxima geschaffen, die sich durch Strukturverschiebungen im Austausch mit der Umwelt ergeben. Diese Maxima sind nicht zufällig, sondern entstehen durch eine zielgerichtete Reorganisation, die den Organismus befähigt, auf neue Bedingungen zu reagieren und sich anzupassen. Die dabei entstehenden Gradienten sind die Grundlage für die Handlungsfähigkeit und erzeugen eine Art kausaler Kette, die das System durch dynamische Veränderungen führt. Diese kausalen Zusammenhänge bieten eine alternative Erklärung für die Entstehung von Variation: Nicht zufällige Mutationen, sondern gezielte Anpassungen, die durch die interne Dynamik des Systems erzeugt werden, spielen eine zentrale Rolle.

 

 

 3.3. Agierende Attraktoren und die Entstehung nicht-zufälliger Variation


Wie bereits im ersten Teil des Artikels diskutiert, sollten Attraktoren in der Theorie dynamischer Systeme nicht als statisch betrachtet werden, sondern als agierende Akteure, die aktiv an der Veränderung und Reorganisation des Systems beteiligt sind. Diese agierenden Attraktoren können als eine Quelle nicht-zufälliger Variation verstanden werden. Sie agieren als interne Regulatoren, die den Organismus dazu veranlassen, neue Zustände zu explorieren, die potenziell vorteilhafter für das Überleben und die Anpassung an die Umwelt sind.


Nicht-zufällige Variation entsteht also durch die Dynamik des kausalen Kerns, der in ständiger Wechselwirkung mit den externen Bedingungen steht und so neue evolutionäre Möglichkeiten generiert. Ein einfaches Beispiel dafür sind Regulationsmechanismen auf genetischer Ebene, die auf äußere Stressbedingungen reagieren. In solchen Fällen werden bestimmte Gene aktiviert oder deaktiviert, was zu gerichteten Mutationen führt, die speziell auf die Anpassung an veränderte Umweltbedingungen abzielen. Diese Form der Variation kann als eine gezielte, nicht-zufällige Reaktion auf Umweltveränderungen interpretiert werden, die durch die Dynamik des gesamten Organismus vermittelt wird.

 

 

 3.4. Epigenetik und die Herausforderung der klassischen Evolutionstheorie


Eine der wichtigsten wissenschaftlichen Entwicklungen, die die Annahmen des Neodarwinismus in Frage stellen, ist die Epigenetik. Epigenetische Veränderungen sind Veränderungen in der Genexpression, die nicht durch Veränderungen in der DNA-Sequenz selbst, sondern durch chemische Modifikationen der DNA oder der Histone verursacht werden. Diese Veränderungen sind oft umweltinduziert und können an die nächste Generation weitergegeben werden, was zeigt, dass Umwelteinflüsse direkt die genetische Aktivität und damit die Entwicklung beeinflussen können.


Der kausale Kern spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle als dynamisches Zentrum der Anpassung, das epigenetische Markierungen als eine Form der strukturellen Verschiebung nutzt, um die Anpassung des Systems an die Umwelt zu gewährleisten. Diese epigenetischen Veränderungen sind somit nicht zufällig, sondern eine Reaktion auf spezifische Umweltreize, die durch die interne Struktur des Systems vermittelt werden. Dies unterstreicht die Bedeutung einer nicht-zufälligen Variation, die durch die aktive Interaktion des Organismus mit seiner Umwelt entsteht.

 

 

 3.5. Konstruktivistische Evolution und die Rolle der Agentenschaft


Ein alternativer Ansatz zur klassischen Selektionstheorie ist die Idee einer konstruktivistischen Evolution, die die Rolle der Agentenschaft und der aktiven Gestaltung der Umwelt durch Organismen betont. In der konstruktivistischen Evolution wird die Umwelt nicht als statischer Selektionsdruck verstanden, sondern als ein dynamisches Netzwerk von Wechselwirkungen, das von den Organismen aktiv mitgestaltet wird. Der kausale Kern als ein zentrales dynamisches Prinzip spielt hierbei eine entscheidende Rolle, da er die Fähigkeit des Organismus beschreibt, aktiv Veränderungen herbeizuführen und die Umweltbedingungen so zu gestalten, dass sie vorteilhafter für das eigene Überleben sind.


Ein Beispiel für diese ko-konstruktive Dynamik ist das Verhalten von Bibern, die ihre Umwelt aktiv gestalten, indem sie Dämme bauen. Diese Dämme verändern das lokale Ökosystem dramatisch und schaffen neue Lebensräume, die wiederum die Selektionsbedingungen für den Biber und andere Organismen verändern. Hier zeigt sich, dass die Evolution nicht nur ein passiver Prozess von Mutation und Selektion ist, sondern dass aktive Umweltgestaltung eine zentrale Rolle spielt.


Der kausale Kern ist in diesem Zusammenhang die triebende Kraft hinter der Art und Weise, wie Organismen ihre Umwelt formen und gestalten. Diese Form der Agentenschaft geht über die bloße Anpassung an gegebene Bedingungen hinaus und umfasst die aktive Erschaffung neuer Bedingungen, die günstig für das Überleben und die Entwicklung neuer Strukturen sind.

 

 

 3.6. Prigogines dissipative Strukturen und evolutionäre Dynamik


Eine zentrale Idee für das Verständnis nicht-zufälliger Variation und dynamischer Anpassung in lebenden Systemen ist das Konzept der dissipativen Strukturen, das von Ilya Prigogine eingeführt wurde. Dissipative Strukturen sind hochorganisierte Zustände, die durch die ständige Aufnahme und den Austausch von Energie entstehen. Diese Art der Organisation ist nicht stabil, sondern dynamisch, und ermöglicht die Entstehung von Ordnung in Systemen, die weit entfernt vom thermodynamischen Gleichgewicht sind.


Die Dynamik des kausalen Kerns kann als eine Art dissipative Struktur betrachtet werden, die kontinuierlich die interne Ordnung des Systems durch Austausch mit der Umwelt erneuert. Dieser Austausch erzeugt strukturelle Verschiebungen, die zu neuen Mustern und Möglichkeiten der Variation führen. Diese Variationen sind keine zufälligen Mutationen, sondern Resultate eines internen Prozesses der Selbstorganisation, der durch den kausalen Kern vermittelt wird. Die evolutionäre Dynamik, die hier entsteht, ist das Ergebnis eines Systems, das aktiv seine eigene Struktur erneuert, um besser mit den Herausforderungen der Umwelt zurechtzukommen.

 

 

 3.7. Schlussfolgerungen zur Evolution: Von Zufall zu Kausalität


Die klassische neodarwinistische Theorie der Evolution betont die Rolle des Zufalls bei der Entstehung von Variation und die Selektion als den Hauptmechanismus der Evolution. Dieser Ansatz vernachlässigt jedoch die aktive Rolle, die lebende Systeme in ihrer eigenen Evolution spielen. Der kausale Kern bietet eine alternative Perspektive, indem er zeigt, dass lebende Systeme nicht nur passiv auf zufällige Mutationen angewiesen sind, sondern dass sie aktiv neue Möglichkeiten generieren, indem sie ihre eigene Struktur verändern und auf die Umwelt reagieren.


Durch die Einbeziehung von Konzepten wie den agierenden Attraktoren, der Bayes’schen Bewegung und den dissipativen Strukturen wird klar, dass Variation in lebenden Systemen nicht einfach zufällig ist, sondern durch eine komplexe Wechselwirkung von internen und externen Kräften erzeugt wird. Lebende Systeme sind somit aktive Agenten ihrer eigenen Evolution und gestalten sowohl ihre eigene Struktur als auch ihre Umwelt in einem fortlaufenden Prozess der Selbstorganisation und Kausalität.

 


Verwendete Literatur

 

1. Ilya Prigogine
   - Prigogine, I., & Stengers, I. (1984). Order Out of Chaos: Man's New Dialogue with Nature. Bantam.
   - Prigogine, I., & Stengers, I. (1997). The End of Certainty: Time, Chaos, and the New Laws of Nature. Free Press.

 

2. Karl Friston

   - Friston, K. (2010). "The free-energy principle: a unified brain theory?" Nature Reviews Neuroscience, 11(2), 127-138.
   - Friston, K. (2013). "Life as we know it." Journal of the Royal Society Interface, 10(86), 20130475.

 

3. Konzept der Bayes’schen Wahrscheinlichkeit
   - Jaynes, E. T. (2003). Probability Theory: The Logic of Science. Cambridge University Press.
   - Doya, K. (2007). "Reinforcement learning: A perspective." Neural Networks, 20(3), 218-234.

 

4. Neodarwinismus und Kritik
   - Dawkins, R. (1989). The Blind Watchmaker: Why the Evidence of Evolution Reveals a Universe without Design. W. W. Norton & Company.
   - Gould, S. J., & Eldredge, N. (1977). "Punctuated equilibria: The tempo and mode of evolution reconsidered." Paleobiology, 3(2), 115-151.
   - Lewontin, R. C. (1974). The Genetic Basis of Evolutionary Change. Columbia University Press.

 

5. Epigenetik
   - Jablonka, E., & Lamb, M. J. (2005). Evolution in Four Dimensions: Genetic, Epigenetic, Behavioral, and Symbolic Variation in the History of Life. MIT Press.
   - Bird, A. (2007). "Perceptions of epigenetics." Nature, 447(7143), 396-398.

 

6. Selbstorganisation und Dissipative Strukturen
   - Kauffman, S. A. (1993). The Origins of Order: Self-Organization and Selection in Evolution. Oxford University Press.
   - Allen, P. M., & Sanglier, M. (1998). "The self-organization of structure." Complexity, 4(2), 17-25.

 

7. Konstruktivismus in der Evolution
   - Oyama, S. (2000). The Ontogeny of Information: Developmental Systems and Evolution. Duke University Press.
   - Bateson, P., & Martin, P. (2013). Design for a Life: How Behavior and Personality Develops. Vintage.